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Kap. 2,25

Das Besondere: eine Mutter haben.
Aber sehen – nein.

13 –  Die große Frage

ostseebad5-6Frederike ließ die Bauklötze in Ruhe und stellte sich vor Tante Lilli auf:
„Du, Tante Lilli, hast du eine Mutter?“ –
„Ja, natürlich.“ –
„Tante Lilli, weißt du nun, ob ich auch eine Mutter habe?“ Tante Lilli schwieg, sie schwieg lange, sodass das Schweigen schon Reden war. Wenn Frederike keine Mutter hätte, bräuchte Tante Lilli doch nicht so lange zu schweigen. Oder doch. Genau deswegen. Alle Hoffnung vorbei! – Für das kleine vierjährige Mädchen war die Stille wie Reden. In dieser Stille empfand sie große Hoffnung. Noch war das Urteil nicht ausgesprochen.
„Na, sag` schon. Du weißt es genau!“ forderte sie Tante Lilli heraus. Tante Lilli seufzte tief, senkte sich zu dem kleinen Mädchen mit den großen braunen Augen, guckte sie mit ihrem leichten Lächeln an und sagte mit leiser Stimme:
“Ja, ich weiß, dass du eine Mutter hast. Nun geh´ schön spielen“.
Frederike wusste gar nicht wohin mit ihrer Freude. Den ganzen Tag ging sie wie auf Wolken. Am Abend versiegte ihre Hochstimmung. Denn es war klar, dass sich für sie nichts ändern würde. Sie bliebe da, wo sie auch jetzt schon war, im Heim. Aber mit einer Mutter, so dachte sie, wusste sie nun genau, dass ihre Hoffnung begründet war. Auch wenn sie nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. – Die Hoffnung war aber da.

Von nun an lebte sie irgendwie sicherer. Sie hatte einen großen Schritt gewagt und große Klarheit gewonnen. Sie hatte sich selbst bereichert. Manchmal fühlte sich Frederike wohler mit der Neuigkeit, aber nachts kam immer wieder die Unruhe in ihr auf.
Oft wachte sie nach dem Einschlafen wieder auf. Sie wurde wieder unzufrieden. Wenn sie diese eine Sache schon herausbekommen hatte, war vielleicht noch mehr da, was sie in Erfahrung bringen könnte. Sie wurde wieder unzufrieden.

14

Eines Nachts lagen auch andere Mädchen wach in ihren Betten. Auf dem Flur schien auch Betrieb zu sein. Ihre Schlafraumtür öffnete sich:
„Alle aufstehen, auf Toilette gehen!“.
Die Kinder aus sämtlichen Schlafsälen wurden so geweckt und versammelten sich auf den Toiletten, sodass sich Schlangen bildeten. Das war die Art, wie dem Bettnässen begegnet wurde. Frederike gewöhnte sich bald daran und wachte schon immer pünktlich zu dieser nächtlichen Weckenszeit auf.

Natürlich mussten sich alle Kinder am Nachmittag für eine Stunde zum Nachmittagsschlaf legen. Das gefiel Frederike immer sehr. Sie genoss die Ruhe am hellichten Tag. Eine Zeit lang wurde nach dieser Bettruhe der Stuhlgang der Kleinen auf Würmer untersucht. Das war nervig: nicht schnell runterspülen, sondern den Kloß im Klo lassen, die Tante zum Begutachten holen und erst dann runterspülen. Frederike kürzte das Ganze häufig ab, indem sie vorgab, nur Klein gemacht zu haben.

Frederike fiel auf, dass sie jetzt nicht nur nachts ins Grübeln kam.
Allmählich diente auch der Mittagsschlaf nicht mehr der Ruhe, sondern entwickelte sich mehr und mehr zur Beunruhigung. Frederike musste sich ständig in der rechten Armbeuge kratzen und hatte schon eine rote Stelle dort. Bald ging es ihr mit der linken Armbeuge genauso. Sie versuchte, dies den Tanten zu verheimlichen, aber sie entdeckten die merkwürdigen Stellen. Außer einem „was hast du denn da?“ passierte aber Gott sei Dank nichts. Manchmal war die Gleichgültigkeit auch ganz praktisch.
Komisch, immer wenn Frederike eigentlich Ruhe hatte, kam es bei ihr zu einer Fülle von bewegenden Gedanken, die sie einzeln gar nicht festhalten konnte. Kamen daher die juckenden Stellen in den Armbeugen? Würden die wieder verschwinden? – Lag das daran, dass die Gedanken Fragen waren, die sie beschäftigten? Aber es war doch schon alles beantwortet.
Manchmal trug eine Tante Salbe auf die Stellen mit der Ermahnung, ja nicht daran zu kratzen. Aber eine Besserung trat nicht ein. Allmählich machte Frederike das nichts aus. Für sie war es inzwischen ein Zeichen, das sie daran erinnerte, dass ihr noch nicht alles klar war. Es brauchte noch mehr Zeit, so schien es, das noch Unsichtbare ans Licht zu holen.

15

Bei ihrer Kleidung legte Frederike jetzt immer Wert darauf, dass sie lange Ärmel trug. Es klappte, ohne dass sie es besonders erwähnte. So konnte sie mit ihrem Hautausschlag selbständig umgehen ohne die Einmischung von den Erzieherinnen-Tanten, deren Aufmerksamkeit sich sowieso schnell zu verflüchtigen pflegte. Es war ein Auf und Ab mit der Rötung und dem Juckreiz. Sie achtete darauf, ganz ruhig und nur leicht dem Reizgefühl durch eigenes Kratzen nachzugeben. Ihr schien es die angemessene Behandlung. Es war ihre Krankheit, und so konnte auch nur sie sie wieder kurieren.

In dieser Zeit war es Mode, Onkel Doktor zu spielen. Frederike fiel es schwer, dieses Spiel nachzuvollziehen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals beim Onkel Doktor gewesen zu sein. Aber sie machte mit. Für sie war alles ausgedacht und nichts Wahres daran, einfach ein Spiel. Wenn man als Onkel Doktor dran war, musste man Fieber messen. Sie konnte sich weder vorstellen, was Fieber war, noch was „messen“ bedeutete. Jedenfalls musste man dabei den Zeigefinger gegen die Hose in der Po-Gegend des kleinen Krankspielers drücken. Dieser spielte, dass er sich das nur ungern gefallen ließ. Aber als Frederike mit dem Gemessenwerden dran war, fand sie nichts Schlimmes daran.

Das leidige Basteln

… war an einem nassen Herbsttag auf der Tagesordnung. Frederike schien, dass diese Beschäftigung immer dann anstand, wenn die Tanten nicht wussten, was sie mit den Kleinen machen sollten. Wie könnte man sonst auf Basteln kommen! Es passte irgendwie nicht in die sonstigen Tagesabläufe hinein. Es war etwas aus der Reihe. Das kam so plötzlich, sodass Frederike überhaupt nicht wusste, wozu Basteln diente. Es war etwas Zweckloses, einfach nur so. Damit konnte sie nichts anfangen. Aber heute sollten unbedingt Laternen gebastelt werden. Und dann sollte man mit diesen Dingern im Ort im Dunkeln spazieren gehen. Das war schon etwas Besonderes. In der Tischmitte lag schwarzes Papier. Das griff sie sich und eine Schere dazu. Sie schnitt langsam, zaghaft. Das Papier wollte sich nicht von der Schere teilen lassen. Eine Erzieherin entriss ihr kurzerhand die Schere und zeigte ihr eilig, wie man das unhandliche Ding hielt:
„So! Ganz einfach!“
und sie müsse doch kräftig anpacken, dann ginge das doch!
„Das mache ich jetzt selber weiter“,
sagte Frederike mit finsterer Mine und entriss die Schere der Weiß-Schürze. Diese machte sich auf den Weg, um andere Kinder bei ihrer Arbeit zu stören.
Frederike atmete auf, dass sie nun weitermachen konnte. Nun schnitt sie entschlossener darauf los und betrachtete sich ab und zu ihr Werk, das entstand. Dann fand sie, war das Gebilde fertig. Sie legte es sich mal so, mal so auf den Tisch, neigte ihren Kopf dabei mal nach rechts, mal nach links, und dann sah sie es genau: Es war eine Katze. Mit einem gelben Stift erhielt die Katze zwei Augen und fertig. Nun noch gelbes Transparentpapier dahinter kleben, sodass um die katze-schwarz-aufgelb1schwarzen Umrisse auch reichlich Gelb zu sehen war. Frederike war beeindruckt von diesen zwei Farben. Sie passten gut zusammen. Ihr war das alles gelungen, ihr allein. An allen Fingern und an ihrer Kleidung klebten lange Fäden und Kleckse des durchsichtigen Klebstoffes. Die Tanten waren bei den anderen Kindern und mischten sie beim Schneiden, Papier aussuchen und Kleben in ihrer rastlosen Art ein. Ihr war es aber gelungen, sich dieses Eingreifen zu verbeten. Ihr schien, die Tanten hörten nicht darauf, was des jeweilige Kind genau wollte.
Mit ihrer Katze auf der Laterne würde sie durch den dunklen Abend gehen. Jetzt freute sie sich richtig auf Laterne-Gehen, auch wenn das eine seltsame Idee war. Denn schließlich machten das Erwachsene bestimmt nicht.
„Fredrike, was hast du denn da gemacht!“ rief eine Tante mit verzogenem Mund und gerunzelter Stirn aus.
„Das ist eine Katze!“, sagte Frederike unbeirrt.
„Naja, mein Kind. Wie du meinst.“
Sie überließ nun der Tante das zusammenkleben der Laternenseiten. Dann stand vor ihr eine richtige Laterne, ganz nach Frederikes Geschmack.

Zwei Tage später marschierte die Schar der kleinen Kinder gegen Einbruch der Dunkelheit an einem Oktoberabend Laternen schwenkend los, nachdem die Kerzen angezündet und hineingesteckt wurden. Nun hörte Frederike neue Lieder, Laterne-Geh-Lieder. Aber wieder fand sie, dass die Erwachsenen mit ihren Liedertexten für Kinder nicht liebevoll umgingen. Das war doch eine grausige Befürchtung: `Brenne aus mein Licht, aber nur meine liebe Laterne nicht` Frederike stellte sich das nun in Wirklichkeit vor, dass die Laterne ausbrennen würde. Noch nie hatte sie Feuer erlebt. Und die anderen Kinder sicherlich auch nicht. Sie gingen durch den Ort, und da passierte es. Ein Kind ließ sein selbst gebasteltes Werk zu tief hängen, dass es auf den Boden schleifte und zu brennen begann. Entsetztes Aufschreien der Erzieherin und darauf ihr Niedertreten der Flammen mit samt der kostbaren Laterne. Hätten die Erwachsenen den Vorfall nicht doch verhindern können? Sie hätten doch sagen können: ´Liebe Kinder, haltet eure Laternen so und so, das Kerzenlicht ist so schön anzusehen. Wenn ihr auf eure Laternen achtet, dann kommt ihr auch heil wieder an, ohne dass sie ausbrennen´. Das wäre liebevoll.
Keines der Kinder hatte im Heim Kerzen brennen gesehen, also auch nie selbst angezündet oder selbst ausgepustet und noch nie ins Feuer geschaut. Dieses Element war ihnen völlig unbekannt, Irgendwie fand Frederike die Erwachsenen auf einmal dumm. Sie hatten ständig Kinder um sich und kannten sie doch nicht.

16 – Darf Mutter nicht sehen

Wie aus heiterem Himmel wurde Frederike bei einem nachdenklichen Kratzen ihres juckenden Armes klar, dass sie ihre Mutter sehen wollte. „Was sie jetzt wohl macht? Wie sie wohl aussieht? Wo sie wohl wohnt?“ geisterte durch ihr Köpfchen. So sprach sie wieder mit Tante Lilli und sagte:
„Wenn ich eine Mutter habe, darf ich sie auch sehen!“
„Nein, mein Kind, das geht nicht. Du kannst ganz beruhigt sein. Sie ist ganz in deiner Nähe. Und nun lass mich in Ruhe.“
`Meine Mutter, ganz in der Nähe. Wo soll das sein?! Gewiss will Tante Lilli mich nur abspeisen´, überlegte Frederike.
Wieder ging sie zu Tante Lilli und zupfte an ihrer weißen Schürze:
“Wo ist meine Mutter!“ schrie sie laut.
„Psst“, machte Tante Lilli, „wenn ich Zeit habe, gehen wir zusammen dahin.“ – Diese Nacht wühlte Frederike unablässig in ihrem Bett. Sie machte es sogar nass, was ihr noch nie passiert war. Sie durfte nicht vergessen, dass Tante Lilli ihr versprochen hatte, mit ihr zur Mutter zu gehen. Gleich am nächsten Morgen fragte sie Tante Lilli danach. Aber diese hatte keine Zeit. Am dritten Tag war es so weit.

29.1.2014
Fortsetzung folgt
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© annianders 2012-ff. – für alle kapitel – 16.10.2012