Startseite » Beitrag verschlagwortet mit 'Raus aus der Höhle! Rein in die Welt!'

Schlagwort-Archive: Raus aus der Höhle! Rein in die Welt!

1. Kap.

H e i m s t a t t

1 – ein Mädchen erobert sich die Wörter

Der Raum

Was war das für ein Raum? Wie war sie hierhin gekommen? Das Bett mit den Gittern rechts und links ließ ihr keine andere Wahl, als nach oben zu schauen: diese Lampen kannte sie nicht. Sie leuchteten irgendwie unbekannt. Sie blickte zur Lampe direkt über ihr, fing an, mit den Augen zu blinzeln und entdeckte, dass der Schein der Lampe mal kürzer, mal länger wurde. Dieses Spiel brachte Spaß. Es ergaben sich immer neue Strahlenbilder. Am schönsten war es, wenn ihr es mit den Augen gelang, viele Strahlen um die Lichtquelle herum zu erzeugen. Dann sah die Lampe wie die Sonne aus. Aber immer wieder verstellte sich das Bild. Sie probierte von neuem, bis sie wieder diese Sonnenlampe hatte. – Wo war sie nur?
Ihr wurde langweilig. Da beschäftigte sie sich mit dem Bett, in dem sie lag. War es größer? War sie jetzt größer? Niemand war da. Sie sah sich um. Es standen noch andere Gitterbetten im Raum. Einige waren leer, in anderen schliefen die Kleinen. War denn wirklich niemand da? Schreien! – Es kam jemand, den sie nicht kannte. – Ein neuer Abschnitt in ihrem Leben würde nun beginnen, der anstrengendste.

2

Frederike war ein fröhliches Kind. Sie nahm ihre neue Umgebung begierig auf. Vor allem lauschte sie den Geschichten der anderen Kinder. Sie erzählten von einer ganz anderen Welt, vielleicht von der Welt. Ihre Welt bestand nur aus ihr selbst. In den Erzählungen der fremden Kinder hörte sie „Familie“. Was das wohl war? War das hier eine Familie? Wovon sprachen sie? Sie hörte „Geschwister“. Das waren nun doch zu viele Fragezeichen. Sie fragte einen Jungen, der erst seit wenigen Tagen da war:
„Was ist Geschwister?“ –
„Na, jeder hat doch Geschwister!“ –
„Und was ist das?“ –
„ Also, man hat einen Bruder oder eine Schwester.“ –
Frederike musste schnell überlegen und kam zu dem Schluss: „Das sind Jungen und Mädchen.“ –
Ein genervtes „Ja!“ hallte ihr entgegen. „Bruder ist Junge, die Mädchen sind Schwestern!“ belehrte er streng.
„Und du hast Schwestern“, behauptete Frederike. Da wurde der Junge wütend:
„Nein, ich hab´ vier Brüder und 2 Schwestern!“ – ´Aber warum heißt das Ge-Schwister? Hört sich nach vielen Schwestern an´, ging es Frederike durch den Kopf.
Diese Nacht konnte Frederike nicht einschlafen. „Geschwister“ ließ sie nicht los. Sie wühlte im Bett. Mal deckte sie sich bis zur Nasenspitze zu, mal legte sie die Beine auf die Decke, mal nur ein Bein unter die Decke und das andere darauf. Endlich schlief sie mit dem Bild der alltäglichen Schar von Kindern, die ihr noch unbekannt waren, ein.

Frederike versuchte sich wohl zu fühlen, und es gelang ihr auch, obwohl ihr klar war, dass sich die Umgebung verändert hatte. Gehörte sie hierhin?
Sie bemerkte, dass es einfacher war, die Kinder mit du anzusprechen, als sich all die Namen zu merken, und die anderen Kinder taten es ebenso. Sie sprach wenig und trotzdem mochten die Tanten sie.

3

Die Nächte – Die Tage – Der Besuch – die Tiere

Inzwischen war Frederike so groß, dass ihr Bett keine Gitter mehr hatte. Alles war geregelt, hatte einen festen Ablauf. Das Zu-Bett-Gehen rundete den Tag nicht ab. Es reihte sich einfach an den festen Tagesablauf an wie die vorherigen Abschnitte des Tages auch. Wie sollte Frederike da einschlafen können! Sie wiegte deswegen ihren Kopf hin und her, summte etwas dazu. Oft reichte das nicht. Sie bewegte dann ihren Kopf auf dem zerwühlten Kopfkissen heftiger und schneller hin und her, verstärkte das Summen und nach langer, langer Zeit vielen ihr dann die Augen zu. An diesem Abend wollten sich die Augenlider nicht senken. Ihr Bett stand gleich an der Tür. An der gegenüberliegenden Wand war ein Fenster. Ihr Blick ging dahin. Auf der Gardine sah sie den schwarzen Schatten einer riesigen Baumkrone. Drohend stand da etwas hinter der Gardine und guckte sie an. Sturm kam auf, sodass das Schwarze noch Furcht erregender auf sie wirkte. Es war, als spräche der Schatten zu ihr, mit dem Kopf kräftig schüttelnd: wehe – wehe – nein – nein, und das in dem Moment, in dem sie sich fragte, ob sie noch mehr Fragen stellen sollte. Wie viel wissen die Kinder? Woher haben sie das Wissen? Was ist mit den Antworten? Damit sie die Gefahr nicht mehr zu sehen brauchte, schloss sie die Augen. Aber wenn sie sie wieder öffnete, war das Bedrohliche auf der Gardine wieder da. Was würde stärker sein: ihre eigene Kraft, die ihr sagte, tue es oder die warnende Macht da draußen?

Ein erbärmliches Heulen weckte sie am nächsten Morgen. Ein Mädchen, das bestimmt ein Jahr älter war als sie, und oben im Etagenbett geschlafen hatte, hatte ins Bett Groß gemacht. Da lag mitten auf dem Bettlaken eine dicke fette Wurst. Darüber weinte jetzt das Mädchen. Frederike verstand das nicht. Wenn man kackt, dann drückt man doch, und das passiert dann doch nicht aus Versehen. Sie hatte es also mit Absicht gemacht. Warum weinte sie dann? Eine Tante kam wortlos herein, entfernte mit einer Handschaufel den Kloß, schüttelte mit dem Kopf und ging wortlos wieder hinaus. Das Mädchen heulte leise weiter. Es wollte wohl einfach weinen.

Frederike zog sich an. Man versammelte sich im Flur vor der Treppe. Als alle sich in ordentlichen Reihen aufgestellt hatten, stimmte die Tante, die ganz vorn war, ein Lied an. Alle sangen mit, auch Frederike. Dabei gingen sie die Treppe hinunter zum Tagesraum. Frederike kannte den Text jedoch nicht, und so sang sie ihn zeitverzögert hinterher. Das war ganz schön anstrengend. Sie ging daher in ein Mitsummen der Melodie über, achtete dabei gleichzeitig noch auf den Text, damit sie ihn beim nächsten Mal besser mitsingen könnte.  Aber da auch die Melodie unbekannt war, kam auch diese leicht verspätet hinterhergesungen. Machte sie das zu laut? Jedenfalls blieb die Tante stehen, sah ernst an den Kindern, die ordentlich aufgereiht auf den Stufen ebenfalls stehen blieben, hoch und fragte mit tiefer Stimme: „Wer brummt da?“ Keiner gab sich zu erkennen. So wurde weitergesungen, aber nur zwei Stufen lang. Die Tante sah sich wieder um. Jetzt blieb ihr Blick in der obersten Reihe stehen und verfinsterte sich:
„Frederike, du brummst. Hör auf zu singen!“
Also lernte Frederike, dass sie, wenn sie singt, immer brummt, und das durfte sie nicht. Welch ein hartes Urteil! Wie sollte sie da nur die Texte und Melodien kennen lernen, die die anderen anscheinend schon kannten! Woher bloß?

Unten im Tagesraum

… angekommen, setzte sich Frederike an einen der Tischchen. Ein Klappern begann. Die Teller und Tassen wurden aufgedeckt. Für sie war auch das Essen hier unbekannt. Sie traute sich nicht, den neuen Aufstrich zu probieren.
„Was ist das?“, fragte sie. –
„Marmelade“. –
„Dann mag ich keine Marmelade“, war ihre Antwort. Sie schob den Teller weg und guckte gelangweilt drein, bis alle aufgegessen hatten. Sie fiel damit nicht weiter auf, denn sie versuchte sich anzupassen. Gegen Ende des Essens wurde es entsetzlich laut im Saal. Die Kinder klapperten mit dem Geschirr herum, stritten sich, einzelne standen einfach schon auf.
Ihr Trost bei der Langeweile, die aufkam, wenn sie nicht essen mochte, war das riesige Fenster, das durch Holzsprossen in viele kleine unterteilt war. Da hindurch sah sie auf den hohen Deich, und dahinter musste das Meer sein. Sie war nicht gern draußen. Weil auch da alles neu, fremd, unbekannt war. Aber der Deich hatte etwas Schützendes.

Am Abend wollten die Augen wieder nicht zufallen. Sie bewegte den Kopf hin und her, um sich müde zu machen. Dann entschied sie sich für das Wachbleiben, weil es stärker war. Ihre Gedanken kreisten um die Fragen: Woher kennen die Kinder „Familie“ und „Geschwister“. Wenn sie Familie von draußen kennen, wie war es da? Warum sind sie hier her gekommen, ins – wie man es nannte – Heim? Diese Kinder hatten also Geschwister. Damit Frederike die Bedeutung dieses Wortes nicht vergaß, schärfte sie sich ein, dass Geschwister Bruder und Schwester bedeutete. Wenn die anderen Kinder also Brüder und Schwestern hatten, hatte sie dann auch welche? Wie sollte sie das in Erfahrung bringen? Wer könnte so etwas wissen?
Sie sah in die Dunkelheit hinaus. Da war wieder der Baum, der den Schatten auf die Gardine warf, und sich wiegte, wie ein drohender Zeigefinger: wehe – wehe – nein – nein. Aber es war ja doch nur ein Baum, machte sich Frederike diese Nacht klar.

Am nächsten Tag hatte die kleine pummelige Tante Dienst. Die war immer froh gelaunt und sprach Frederike manchmal direkt an, nur sie allein, nicht die ganze Gruppe. Nach dem Mittagessen fragte sie Frederike:
„Na, was hast du denn heute gegessen?“
Frederike war überglücklich, diese Frage gestellt zu bekommen, denn sie galt nur ihr allein und außerdem gab es ihr Lieblingsessen. Freudestrahlend antwortete sie:
„Juppe.“
Ihre Zunge konnte das „s“ noch nicht formen. –
„Und was für eine Suppe?“ –
„Eine weiße“ war ihre stolze Antwort. Immer wenn es Suppe gab, und diese Tante Dienst hatte, kam es ab nun zu diesem Frage- und Antwortspiel, an dem beide ihre Freude hatten.
Diese Tante wurde Frederikes Lieblingstante. Als wieder ein Tag des Fragespiels kam, fasste sie sich ein Herz:
„Tante, was ist Familie?“ –
„Familie, das sind Vater und Mutter und Kinder.“.-
„Habe ich Vater und Mutter und Geschwister?“
Frederike blickte die Tante mit weit aufgerissenen Augen an. Die Tante stockte und antwortete:
„Das weiß ich nicht“.

Nach dem Mittagsschlaf versammelte sich die Gruppe auf dem Hof, stellte sich in Reihen auf und machte einen Spaziergang auf dem Deich, immer geradeaus. Der Wind blies scharf von vorn. Die Drei- und Vierjährigen stemmten sich ihm gebeugt entgegen. Sie gingen stur dem Deich folgend immer geradeaus. Die Flinken unter ihnen hielten Schritt mit den beiden Tanten in vorderster Linie. Diese hatten noch die Kraft, sich trotz des heftigen Windes ununterbrochen zu unterhalten. Unterdessen zog sich hinter ihnen die Kinderschar immer mehr auseinander. Einige klagten, dass sie nicht mehr weiter wollten. Frederike hielt sich in der Mitte. Sie hörte von hinten Jammern und Plärren. Sie sah sich um, blieb an der Seite stehen, bis sie auf der Höhe der hintersten Reihen war. In der Tat, die Kinder waren entkräftet und lahm. Sie gingen nicht, sie schlurften, hatten lange Rotznasen, ihre Schuhbänder offen und verzweifelt fragende Augen: Was soll das? Wohin gehen wir? Was macht ihr mit uns? – Dann ging´s endlich zurück. Nun spürten sie den Wind von hinten. Aber sie waren inzwischen so kraftlos, dass sie das nicht mehr freuen konnte.

4

FORTSETZUNG folgt

www.annianders.wordpress.com

15.1.2014