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4. Kap.

Weihnachtsmann
und Fahrstuhl

Der Weihnachtsmann

Der große Tag kam. Die Gruppe betrat den Tagesraum: Die Tische waren an andere Plätze gestellt, links neben der Tür. Rechts von der Tür, wenn man hinein kam, sollten sich die Kinder aufstellen. Erwartungsvoll wurden Lieder gesungen. Dann trat eine Stille ein, die Frederike noch nie erlebt hatte: Der Weihnachtsmann betrat den Raum. Vor Angst fingen einige Kinder an zu weinen, andere liefen fort. Frederike blieb zwar stehen, konnte aber den Weihnachtsmann unter diesen Umständen nicht bestaunen. Ihre Stimmung sank. Was für ein Fest! Die Kinder laufen vor Angst davon! Ihr Herzklopfen ließ nach. Von sich heraus spürte sie keine Angst, und so entschied sie sich für sich. Sie beobachtete in Ruhe. Die Angst der Anderen war nicht ihr Ding.

Sie wurde misstrauisch. Der Weihnachtsmann hatte einen langen roten Mantel, der Saum an den weiten Ärmeln war weiß abgesetzt. Auf dem Kopf trug er eine große rote Zipfelmütze mit weißem Trottel. Auf dem Rücken schleppte er einen braunen großen Sack. Unter der Unterlippe hatte er einen langen weißen Bart und unter der Nase einen weißen Schnurrbart. Der Weihnachtsmann nahm bedächtig Platz, zog den Sack zwischen die Beine, öffnete ihn und fing an zu sprechen. Seine Stimme kam unerwartet. Der Weihnachtsmann spricht! Wieder wurden einige Kinder verängstigt und weinten los. Die Stimme verwunderte Frederike. Sie war nicht richtig tief, nur tief gemacht. Konnte es eine Stimme von einer Frau sein? Nein. Sie kannte die Stimme nicht. Die Kinder hatten sich nun hintereinander aufzustellen. Jedes Kind erhielt aus der Hand des Weihnachtsmanns, der jedes Mal tief in den Sack griff, ein kleines Geschenk, das seinerseits ein kleines Säckchen war. Anschließend durften sie zu der Stelle gehen, an der Paketchen in verschiedenen Farben an der Wand hingen. Davon durfte Frederike sich eines aussuchen. Sie konnte sich nicht zwischen dunkelblau und türkis entscheiden und ging immer zwischen diesen beiden Paketchen hin und her, bis ihre Wahl für das türkisfarbene ausfiel, auf das sie deutete. Eine Tante schnitt es ab. Nun hatte Frederike beide Hände voll. Wo sollte sie jetzt damit hin? Alles war heute ganz anders gestellt. Sie setzte sich an einen Tisch, an dem noch ein Platz, der letzte überhaupt, frei war.

Alle Kinder hatten schon ausgepackt.
So guckten sie neugierig Frederike zu, als sie sich dem Schächtelchen widmete. Sie löste die Schnur, wickelte das Papier ab und hob den Deckel des kleinen Kartons: ein kleines grünes Auto, sozusagen ein Autöchen, aus Kunststoff mit weißen Rädern. Frederike verstand es, ihre Enttäuschung zu übergehen. Sie fand sich schnell damit ab, setzte sich auf den Boden und ließ ihr Auto rollen. So etwas hatte sie noch nie getan. Da fuhr das Auto, IHR Auto. Es rollte bis an einen Fuß eines Jungen. Frederike kroch vom Boden auf und bat den Jungen, ihr das Auto zu geben. Dieser blickte verachtend hinunter zu dem neuen Spielzeug und trat es mit voller Kraft entzwei.
„Mein schönes Auto“, sagte Frederike empört zu dem Jungen, der sich abwendete und so tat, als sei nichts geschehen. Was sollte sie nun tun? Zu den Tanten gehen, kam nicht in Frage, denn der Festtag sollte friedlich weitergehen. Sie wusste: Sobald sich die Tanten einmischten, gab es immer noch mehr Unfrieden, so als ob es ihnen gar nichts ausmachte. Frederikes Vertrauen zu ihnen war ohnehin geschmälert.
Sie hatte ja noch das Säckchen aus dem großen Sack, fiel es ihr ein. Was sie da herauszog war eine Mundharmonika, eine hellorangefarbene Mundharmonika. Aber wie funktionierte das Ding?
„Du musst da rein pusten!“, meinte der Junge, der eben noch ihr Auto zertreten hatte. Sie tat es. Das freute sie nun wirklich: Sie konnte Töne machen! Damit konnte sie etwas anfangen: freudig bließ sie wieder hinein. Sie selbst konnte damit Musik machen. Ganz einfach! Das war etwas! Ein Spielzeug nur für sie allein, das ganz unterschiedliche Töne von sich gab! Es kam darauf an, ob man an der einen oder anderen Seite hineinblies, und in der Mitte hörte sich die Musik wieder anders an. Frederike konnte musizieren! –

Aber „Weihnachtsmann“? Das schien ihr alles vorgespielt worden zu sein. Das behielt sie aber für sich. Schade, dass sie nicht wusste, wer diese Stimme hatte, dachte sie immer wieder.

Ein Festtag voller Spannung ging zu Ende. Sie nahm sich vor, sich nicht mehr zu fürchten.

****  ****

**********

Auf die kurzen Tage mit den langen dunklen Morgen und Abenden folgten allmählich die längeren hellen Tage. Frederikes Hautausschläge in den Armbeugen waren nun ganz verschwunden.
Wenn ihre Kindergruppe zur Abendrunde an ihren Tischen saß, hörte sie oft, wie von weit her, einen Gesang. Er kam aus dem Tagesraum der großen Mädchen. Das gab ihr Geborgenheit. Sie wusste, dass da ihre beiden Schwestern mitsangen. Sie waren ganz in ihrer Nähe. Sie war also nicht allein. Sie träumte davon, die beiden blonden Schopfe wiederzusehen, nur ganz kurz.

Wie es wohl in der anderen Gruppe war?
`Eine andere Tante nehmen`, fiel es Frederike wieder ein. Einige Tage später ging Frederike auf Tante Elisabeth zu und fragte sie so, als ob dem nichts im Wege stünde:

„Darf ich jetzt zu meinen Schwestern?“, fragte sie fordernd.
Tante Elisabeth sagte, dass es gleich ginge. Frederike wartete kurz, und dann gingen beide dorthin. Tante Elisabeth hatte ihr Wort gehalten. Kurz darauf stand Frederike zum ersten Mal in einem ganz anderen Tagesraum. War der riesig! Die Großen saßen an höheren Esstischen. Tante Elisabeth führte das Mädchen zu den Plätzen der Schwestern. Frederike erkannte sie überhaupt nicht wieder. Aber das machte ihr nichts aus. Die Gruppe begann gerade mit dem Abendessen. Sie reichten sich in der Runde alle die Hände und sagten dann etwas, was Frederike nicht verstand. Da für sie kein Stuhl vorhanden war, stand sie zwischen ihren beiden Schwestern, fasste sie nach links und rechts an die Hände und nuschelte auch den Spruch mit. Danach ging Frederike in der Begleitung von Tante Elisabeth brav zurück. – Sie ließ es nicht zu, dass ihr die Trennung schwer fiel. Es ging ja nicht anders.

Tante Elisabeth

… war eine gute Tante. Es war richtig, dass Frederike zu dieser Tante gewechselt hatte.
Sie empfand Stolz: Sie besaß zwei große Schwestern und eine große Mutter! Doch in dieser Nacht bereitete ihr der Gedanke an ihrer Mutter Unruhe. Da fiel ihr „Bauchweh“ ein und schlief ein. Am nächsten Morgen rannte Frederike zur Tante:
„Ich habe Bauchweh!“ rief sie ihr von Weitem entgegen. Dann erinnerte sich Frederike, dass man sich dabei beide Arme vorm Bauch hielt und leicht nach vorne krümmte. Das tat sie schnell. Den ganzen Tag hielt sich Frederike immer wieder den Bauch und sagte klagend und lang gezogen:
„Ba-uch-weh, Ba-uch-weh“.
Sie tat dies vorm Essen und danach, vorm Anziehen und danach, während des Spielens und danach. Frederike setzte es unauffällig aber deutlich ein. Nach drei Tagen wurde ihr eröffnet, sie müsse ins Krankenhaus, um dort untersucht zu werden, denn hier konnte man nichts feststellen.

Der Tag kam, an dem sie zum Krankenhaus vierundzwanzig Kilometer entfernt gefahren werden sollte.

Und wer kam mit?
Ihre große Mutter! Hübsch sah sie aus. Ganz anders als damals in der Küche. Sie warteten zusammen auf den Bus. Es war ein großer gelber Postbus, der anhielt und stank. Frederike wurde sofort so schlecht von dem Gestank, dass sie würgen musste. Ihre Beine wurden wacklig. Sie mochte gar nicht die Stufen hoch in den Bus einsteigen. Aber sie musste es bis zum Krankenhaus schaffen, sagte sie sich und stieg doch wacker ein. Sie nahm am Fenster Platz, ihre Mutter setzte sich neben sie. Frederike lehnte sich gegen die Buswand und schaute durchs Fenster. Der Bus fuhr ab. War das seltsam, wie sich die Landschaft bewegte! Es war eigentlich der Bus, der sich bewegte. Aber dennoch sah es so aus, als liefe die Landschaft mit ihren vielen Feldern am Fenster des Busses vorbei und konnte aber nicht so schnell sein wie der Bus. Das war zu viel für ihre Augen. Frederike begann zu würgen. Sie hielt ihre Lippen fest zusammen, damit der Mundinhalt schön drin blieb. Die Mutter eilte nach vorn zum Busfahrer und kam mit einer Speitüte postbusaus festem braunen Papier wieder. Frederike füllte sie bis oben hin. Danach ging es ihr besser. Sie guckte nicht mehr zur Seite raus, sondern geradeaus ins Businnere, wurde müde und legte ganz langsam, sich der Mutter schüchtern annähernd, den Kopf gegen ihren Oberarm. So wie das Motorengeräusch vom Bus tönte, so summte Frederike mit und presste dabei ihren Kopf sanft fester gegen den weichen, großen Oberarm, der ihrer Mutter gehörte.

Da war eine Person, die sie nicht kannte, die ihr jedoch nah sein musste, und Frederike hatte sie noch nie angesprochen.
´Was sagt man eigentlich?´ fragte sie sich. Von den anderen Kindern hatte sie einmal „Mutter, Mama, Mutti“ gehört. Frederikes Summen verstummte nun, weil sie überlegte. Sie entschied sich für Mama. Nun summte sie „Mamaaa, Mamaaa“ – so leise und zaghaft, als ob sie ein Geheimnis hütete. So etwas sprach sie das erste Mal aus. Sie übte es: Mamaaa, wiederholte Mamaaa und wurde von Mal zu Mal lauter und lauter dabei, dass sie von ihrer Mutter angestoßen wurde. Dann schlief sie ein.

Der Fahrstuhl

Nach einer langen dreiviertel Stunde waren sie in der Stadt angekommen. Im Krankenhaus dauerte es lange, bis ihre Mutter mit einem für Frederike fremden Namen aufgerufen wurde. Sie bekam einen Zettel, und dann mussten sie durch viele Gänge gehen. Mitten in einem Gang blieben sie stehen.
„Was machen wir jetzt?“ fragte Frederike.

„Wir warten auf den Fahrstuhl“,

sagte die Mutter mit tiefer unwirscher Stimme. Frederike wollte noch fragen, was das sei. Aber da öffnete sich die Wand. Da hinein sollte sie gehen: in eine Art Kammer. Frederikefahrstuhl begriff nicht, blieb verwundert stehen und die Tür schloss sich schnell wieder.
„Du musst sofort hineingehen“, ermahnte die Mutter. Als nach kurzer Zeit die schillernde Wand wieder aufging, schubste die Mutter Frederike leicht nach vorn. Da standen sie zusammen mit anderen Fremden in der Kammer.
„Was ist das?“, fragte Frederike.
„Das ist ein Fahrstuhl“, antwortete die Mutter ganz leise, als ob es die anderen nicht hören sollten.
`Und kein Stuhl drin`, dachte das Kind. Den Erwachsenen und ihren Wörtern konnte man wirklich nicht trauen.

Die Tür ging zu, der Boden bewegte sich unter ihren Füßen nach oben. Frederike gab dem Druck von unten nach oben nach und ging tief in die Knie. Unsicher machte sie sich wieder gerade. Mit wackeligen Beinen und mulmigem Magen rief sie erschrocken aus:
„Das bewegt sich! Meine Ohren!“
Aber niemand schien das Gleiche zu empfinden. Alle guckten stur ins Nichts, auch die Mutter. Da bekam Frederike wirklich Bauchweh. Als sich die silberne Tür endlich öffnete ging Frederike, sich den Bauch gekrümmt haltend, hinaus. Der Arzt stellte zwar nichts fest, aber Frederike hatte zum ersten Mal tatsächlich Bauchweh verspürt.

Als sie das Sprechzimmer verließen, machte sie sich auf den Fahrstuhl gefasst, damit sie sich nicht so erschreckte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und stieg ein. Nach einer Weile schloss sich die Tür. Aber nun passierte etwas ganz anderes als auf dem Hinweg. Der Boden bewegte sich von ihren Füßen weg nach unten, als ob sie in der Luft stehen müsste und für kurze Zeit schwebte.
„Was ist los!“ rief sie aus, „der Boden wackelt!“. Aber niemand antwortete.
Nach der langen Rückfahrt im Bus übergab die Mutter das Mädchen an eine Tante. Die gewohnte Umgebung ließ Frederike aufatmen. Nach all den Eindrücken schlief sie tief und fest ein.

Fortsetzung folgt

 

27.03.2014

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