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Kap. 9,5 und 9,75

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2 Herzen

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STAND: 2. März 2016

Innenansichten – Fotos 2014

INNEN- UND AUßENANSICHTEN – Fotos 2014:
INNENANSICHTEN + AUßENANSICHTEN:
Juni 2014 Fotos: http://annianders2.wordpress.com/2014/10/22/innenansichten-fotos-2014/P1000695 von draußen: http://annianders2.wordpress.com/2014/10/22/ausenansichten-fotos-2014/
25.6. nun ist das 6. Kapitel da – mit Gipsarm und Sandkörnern: http://annianders2.wordpress.com/2014/06/24/6-kap/
mit Gipsarm im Sand: http://annianders2.wordpress.com/2014/06/24/6-kap/
 
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es folgen noch mehr Kapitel – es braucht Zeit cropped-cimg1081.jpg

Kapitel 4,75

Stummes
Abtrocknen

Als Frederike die Tür zur Küche endlich geöffnet hatte, stand ihre Mutter gerade am Kohleherd. Sie hatte eine Eisenstange in der Hand, mit der sie die Eisenringe der Herdplatten hochhob und wieder einsetzte. Ihr Gesicht war glutrot von der Hitze, die aus dem Herd strömte. Frederike entdeckte auch auf der Schürze ihrer Mutter eine rote Herzstickerei mit weißer Schrift.
„Was willst du denn hier?!“, fragte die Mutter mit zusammengepressten Augenbrauen, sodass zwischen ihnen sich zwei Falten bildeten.
„Besteck abtrocknen“.
„Dann musst du noch warten. Ich bin noch nicht so weit“, erwiderte die Mutter. Es dauerte noch etwas und Frederike wartete geduldig, bis sie mit der Mutter in die Abwasch-Küche ging. Dort bekam sie wieder das nasse Besteck zugeteilt, das sie am Holztisch abtrocknete. Dieses Mal war die Stimmung aber nicht gut, denn die Kollegin war nicht dabei. So arbeiteten sie beide stumm vor sich hin, Mutter und Kind. Dann musste Frederike wieder Mittagsschlaf halten. Sie legte sich auf den Holztisch, wurde mit einem Geschirrhandtuch zugedeckt und schlief ein. Nach dem Aufwachen stieg ihr der Geruch der Drangtonne in die Nase. Das war die Tonne, in der die Essensreste für die Schweine gesammelt wurden. Ein kurzes Räkeln, dann ging sie wieder geradewegs zu ihrer Gruppe.

Das Raufenstreitendekinder

Am folgenden Abend waren die Kinder mehr durcheinander als sonst. Von ruhiger Warte aus besah sich Frederike das Treiben. Es war ein Heulen, Schubsen und Sachen-Wegreißen in allen Ecken des Tagesraumes bei jeder Gelegenheit. Immer wieder schritt eine Tante ein, aber nach kurzer Zeit waren andere Kinder am rempeln, zanken und weinen. Irgendwann war gar keine Tante mehr zu sehen, und das Treiben der Kinder steigerte sich. Sie wurden noch lauter und gingen sogar an Schubladen, in denen sich die Kleidungsstücke befanden. Sie rissen alle heraus und warfen sie auf den Boden, und zwar so lange, bis die Schubladen vollständig geleert waren. Plötzlich ging die Kunde um:
„Sie kommen!“. Eiligst wurden die Sachen in die Schubladen gestopft. Nach dem hastigen Zuschieben hingen noch Ärmel und Beine heraus, einiges blieb auf dem Boden liegen. Dann taten sie alle auf ruhig und gelassen, ihre Herzen aber hörte man förmlich klopfen. Empört stemmten die beiden ankommenden Tanten ihre Fäuste seitlich in die Hüften:
„Das ist ja die Höhe! Nun geht ihr alle sofort ins Bett, aber dalli!“
Alle fügten sich. Als Frederike im Bett lag, ging ihr durch den Kopf, dass sie einmal die Kinder verraten sollte, die damals die Schubladen ausgeräumt hatten. Nun schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob sie damals die Kinder doch verpetzt hatte. Immerhin hatte sie auf die Frage, wer angefangen habe, zugegeben, dass sie alle gleichzeitig angefangen hätten. War das ein halbes Petzen? Frederike erschrak vor sich selbst. Sie hätte auch sagen können:
Ich hab´ niemanden gesehen.“ Sie drehte sich von einer Seite auf die andere.

Im Vergleich zu den anderen Kindern war Frederike mit ihrer stillen ruhigen Art eher phantasielos. Sie verspürte nie, Dummheiten anstellen zu wollen. Sie tröstete sich damit, dass die Sache mit den Schubladen schon lange her war, und dass die Tanten dieses Mal nicht versucht hatten, ein Kind zum Verpetzen zu bewegen. Trotzdem blieb etwas Unzufriedenes in Frederike. Sie setzte sich auf den Bettrand. Ihr fröstelte es in ihrem dünnen Nachthemd. Sie stellte ihren rechten Fuß auf die Bettkante und betrachtete nun ihre Zehen genau. Müssten die nicht wieder geschnitten werden? Sie ging Zeh für Zeh durch. Ja, der Nagel des großen Zehs sah ihr viel zu lang aus. Aber selbst konnte sie ihn nicht schneiden. Sie hatte keine Schere. Sollte sie jetzt eine Tante rufen? Die würde angestampft kommen, irgendetwas brummeln, mürrisch die Schere holen und kräftig drauflos schneiden. Das war ihr alles nicht recht und zu umständlich. Da nahm sie ihre linke Hand, griff die überstehende Ecke des Zehnagels und riss sie ab. Aber wie sah nun ihr Zeh aus?! Er schmerzte leicht. Sie hatte zu viel abgerissen, sodass sie das sonst vom Nagel bedeckte Fleisch sah. Aber es war nur eine kleine Stelle, fand sie. Das würde wieder heilen.

„Muss operiert werden“

Vor dem Schließen der Schlafsaaltür kam die Tante herein, sah, wie sich Frederike ihren Fuß betrachtete und fuhr zusammen: „Was ist das denn! Das ist ja ganz entzündet!“
„Nein“, beschwichtigte Frederike, „der Nagel ist nur abgegangen.“
„Wir gehen morgen sofort zum Arzt“ bestand die Tante. In der Nacht schlief Frederike schlecht. Ständig spürte sie die wunde Stelle. Ein zuckender Schmerz ging vom Zeh bis durch den ganzen Körper.
Der Dorfarzt sagte: „Muss operiert werden.“ Diese Situation war völlig überraschend. Was kam jetzt auf sie zu? Frederike fiel ein, dass das Krankenhaus in der gleichen Stadt lag, in der ihre liebe Oma wohnte und zwei Onkel und Tanten und drei der Kusinen und ein Cousin. Mit diesem Gedanken wurde der Operation das Bedrohliche genommen. Sie war schon einmal im Krankenhaus gewesen, und alle ihre Verwandten wohnten in dieser Stadt. – Ein behagliches Gefühl.

Es kam der große Tag, an dem sie ihre Mutter im Sonntagsstaat abholte. Es war Sommer. Sie gingen zum stinkenden Bus, stiegen ein und Frederike brummte leise zum Motorengeräusch ihr „Mamaaa, Mamaaa“. Sie musste zweimal spucken, dann stiegen sie am Marktplatz der Kreisstadt aus. Frederike wurde im zweiten Stock in ihr Zimmer gebracht, die Mutter immer bei ihr. Fünf andere Kinder lagen schon in ihren Betten. Sie bekam ein Bett direkt am Fenster mit Blick auf einen großen grünen Rasen. Dann wurde Frederike von der Schwester angewiesen, Mittag zu essen. Sie stellte Frederike ein Stühlchen an die breite niedrige Fensterbank mit Blick auf einen weiten grünen Rasen. Es gab Frederikes Lieblingsessen: Spinat mit Spiegelei und Kartoffelbrei, herrlich! Frederike stopfte es nur so in sich hinein.
„Das schmeckt aber gut!“ sagte sie mit vollem Mund und drehte sich zur Mutter um – da stand aber keine mehr hinter ihr. Frederike schrie los, sodass der grüne Spinat gegen die Fensterscheibe spritzte.
Als sie wieder sprechen konnte, rief sie empört:„Wo ist meine Mutter!“ Das war bis auf dem Krankenhausflur zu hören.
Die Schwester eilte herein: „Die ist doch schon längst gegangen!“
Nun fühlte sich Frederike verlassen in einem fremden Zimmer, mit fremden Kindern und fremden Schwestern fernab von ihrem Heim.
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Am nächsten Morgen war die Operation.
Sie wurde auf einem Rollenbett in einen riesigen Saal gefahren. Es wurde ihr etwas gespritzt. Sie sollte nun laut zählen. Das konnte sie inzwischen schon, wusste aber nicht, ob nach Fünf die Sieben oder die Sechs kam. Als Frederike bei Fünf stockte, kam eine Schaar von Männern herein, die sich von oben bis unten verkleidet hatten: ganz in dunkelgrün. Frederike fand Grün die hässlichste Farbe von allen. Selbst auf dem Kopf trugen sie grüne Hütchen. Aber damit nicht genug. Sie banden sich jetzt etwas Weißes vor den Mund! Ein Arzt beugte sich über das Gesicht des kleinen Mädchens und fragte:
„Erzähl´ mal, wo du schon mal im Urlaub warst.“
Frederike verstand ´Urlaub´ nicht. Da fragte der Arzt weiter, ob sie schon mal in die Berge verreist war. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum sie in die Berge verreisen sollte.
„Ich mag keine Berge“, antwortete sie. Diese Antwort kam aber nur langsam Stück für Stück aus ihrem Mund.
„Ach so“, reagierte der Arzt verständnisvoll, „du magst lieber das flache Land und das Meer.“ Mit diesem ihr bekannten Landschaftsbild und einem gehauchten „Ja“ sackten Frederikes Sinne weg.

Nach der Operation

… fand sich Frederike im Bett des Krankenzimmers wieder. Sie setzte sich auf, um wieder durchs Fenster auf den weiten Rasen zu schauen und ehe sie sich´s versah, wurde ihr so übel, dass sie ihr Kissen vollkotzte.
„Mein schönes Kissen“, bedauerte Frederike. Auch die anderen Kinder hatten Mitleid:
„Ich sage es der Schwester“, sagte ein Mädchen, „dann kriegst du ein neues.“
Diese Kinder kannten sich im Krankenhausleben schon gut aus. Eines klingelte die Schwester herbei. Die besah sich das Unglück, nahm das übelriechende Kissen, ging fort und kam mit keinem Ersatz wieder. Da hatte Frederike die Idee, in der Stofftasche, die ihre Mutter auf dem Nachttisch liegen gelassen hatte, nachzusehen und zog ein großes Buch, ihr einziges Buch, heraus. Sie wusste, dass dieses Buch vorher ihren Schwestern gehört hatte. Das machte es besonders wertvoll. Auf dem Buchdeckel war ein lustig dreinschauender Igel mit allerlei Hamstern und einem fröhlichen Seemann abgebildet. Dieses Buch konnte nun ihr Kopfkissen werden.
„Guckt, ich hab jetzt ein Kopfkissen“, sagte Frederike zufrieden.

„Oh, du hast ja MECKIE-sindbad
ein Buch.

… Darf ich da mal reinsehen?“,
fragte das Mädchen vom Krankenbett schräg gegenüber, das zu ihr ans Bett kam. Frederike hatte sich das Buch noch gar nicht angeguckt. Noch nie hatte sie allein ein Buch aufgeschlagen.
„Me–ck–ie“, las das Mädchen langsam vor. Nun betrachteten sich beide Mädchen Bild für Bild. Sie staunten gleichermaßen über die Vielfalt der Tiere, Landschaften, Gewächse und Menschen, die sie da zu sehen bekamen.
„Darf ich das zu mir ins Bett nehmen?“ fragte das Mädchen. Selbstverständlich durfte sie. Nun hatte Frederike zwar kein Kissen mehr; aber sie beobachtete im Liegen, welche Freude es dem größeren Mädchen machte, dieses Buch aufgeschlagen in Händen zu halten. Das Mädchen murmelte dazu halblaut. Anscheinend konnte sie schon lesen, sagte sich Frederike. Neugierig fragte sie:
„Gehst du schon zur Schule?“ – Sie ging, und zwar in die zweite Klasse.
„Magst du mir morgen auch was vorlesen?“ fragte Frederike.
„Ja, aber ich kann noch nicht viel lesen“, sagte das Mädchen.
„Wenn du mir wenig vorliest, ist das auch gut“, erwiderte Frederike. Am nächsten Tag saß das Mädchen in Federikes Bett und las vor, was es schon lesen konnte. Frederike tauchte ihren Kopf in eine wundersame Welt, in der es einen fliegenden Teppich gab, Gefahren, die sich alle wieder gut auflösten und gescheite sprechende Tiere.

Der Wochentag Sonntag kam.
Es tat sich etwas an diesem Tag in ihrem Krankenzimmer. Zu den anderen Kindern kamen Erwachsene Es waren ihre Eltern oder Verwandten. Sie kamen die Kinder besuchen. Warum nur? Das war Frederike nicht klar. Sie erwartete keinen Besuch. Das kannte sie nicht: „Besuch“.

Die Kinder erzählten eifrig und mit Freude, wie es ihnen ging. Nach einiger Zeit war die Besuchszeit vorüber, und die Erwachsenen verabschiedeten sich umschwänglich. Dann waren die Kinder wieder unter sich. Nach sieben Tagen kam wieder ein Sonntag. Und Frederike musste wieder staunen, wie viel Besuch zu den Kindern kam. Nun war Frederike gespannt, ob sie am nächsten Sonntag auch Besuch bekäme. Es wäre gut möglich, überlegte Frederike. Die meisten ihrer Verwandten wohnten ja in der gleichen Stadt des Krankenhauses. Aber am dritten Sonntag kam niemand an ihr Bett. Einige Kinder wurden in der Woche entlassen und neue kamen an. Am vierten Sonntag kam wieder keiner für Frederike.
Ihr Zeh erholte sich. Anfangs sah er noch aus wie eine ´Frikadelle´, wie der Arzt ihn bei seiner ersten Visite nannte. Inzwischen wurde das Fleisch ansehnlicher und fester. Bei der Operation war der gesamte Zehnagel wegoperiert worden. Als der fünfte Sonntag kam, hatte Frederike keine Hoffnung mehr auf Besuch, um sich die Enttäuschung zu ersparen. Dennoch war sie enttäuscht. Am sechsten Sonntag holte sie ihre Mutter ab. Ihre Mutter konnte sich frei nehmen zum Abholen! ´Hätte sie auch zwischendurch zu Besuch kommen dürfen?´, fragte sich Frederike. Anscheinend nicht, sonst wäre sie gekommen, machte sie sich klar. Ihre Mutter musste viel arbeiten.

Im Bus

… erzählte sie der Mutter begeistert, dass sie im Krankenhaus ein Mädchen kennen gelernt hatte, das schon in die Schule ginge, in die zweite Klasse.
„Das konnte schon vorlesen“, sagte sie begeistert. „Und wann komme ich in die Schule?“, wollte sie gern wissen.
„Nächstes Jahr“, war die knappe Antwort. – Das war noch eine lange Zeit, und ihre Mutter schien sich nicht darauf zu freuen.

Nach der langen Abwesenheit vom Heim, war das Betreten des Gebäudes ein schönes Gefühl. Es kam ihr alles neu und verändert vor. Die Kinder sahen anders aus. Die Erinnerungen kamen aber schnell zurück und Frederike erkannte sie wieder. Alle freuten sich: Frederike war wieder da.

historisches Bild aus dem 19. Jahrhundert: von Pietro Saltini (1839 – 1908),
Florenz, „Le gioie di casa“, „Home, Sweet Home“

wird fortgesetzt

13.5.2014

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Kap. 4,5

Ostereier

(historisch Kapitel 4)
Frederike wurde anders. Das Kläffen der kleinen Hündinnen Carla und Klara machte sie nicht mehr bang. ´So sind Hunde nun eben´, sagte sie sich. Sie verstand aber immer noch nicht, wozu es diese Tiere gab. Der Frühling kam und mit ihm die Osterzeit. Am Morgen des Ostersonntags ging´s hinaus auf den Deich. Die Tanten trugen große Verpflegungskörbe mit sich, in die man nicht hineinschauen konnte, denn sie waren mit Tüchern zugedeckt. Es wehte ein seichter Wind, nur wenige kleine weiße Wolken bedeckten den hellblauen Himmel. Auf der Höhe des Kiefernwäldchens gingen sie hinunter und suchten sich im Schutze dieser Bäume, die wie Büsche wuchsen, einen Platz zum Picknicken. Decken wurden auf den Grasboden ausgebreitet. Frederike setzte sich sofort an den noch nicht gedeckten „Tisch“. Aber es tat sich nichts. Die Tanten verschwanden hinter den Nadelbäumen. Die Kinder standen unschlüssig umher und wunderten sich, was das sollte. Da tauchten sie wieder auf.
„So, nun geht Ostereier suchen!“
War das eine Freude! Mitten in der freien Natur lagen Naschereien für sie. Und da! Plötzlich sah Frederike einen großen weißen Korb aus Papier mit großem Papierbügel zum Tragen. Durfte sie sich diesen einfach so nehmen? Sie tat es und eilte zur Tante.
„Das habe ich gefunden! Im Wald, an einem Baum. Wem gehört das?“
„Das ist für dich. Du hast den Korb gefunden. Er gehört dir“, war die Antwort. Es folgte noch etwas von Osterhase, aber das interessierte sie nicht. Frederike stand vor einem Rätsel. Da kamen auch die anderen Kinder von ihren Erkundungstouren zurück, alle mit einem Papierkörbchen in der Hand und glückstrahlend. Sie setzten sich auf die Decken und wühlten aufgeregt in ihren für sie riesigen weißen Körben, wickelten aus und genossen. Als alles aufgefuttert war, gingen sie satt und matt hinauf zum Deich und hinein in das hohe und mächtige weiße Gebäude, dem Heim. Eben waren die Erzieherinnen noch im Freien ganz normal gekleidet. Jetzt – kaum drinnen – hatten sie wieder ihre weißen Schürzen umgebunden. Das hatte gar keinen Sinn! Nie machten sich die Tanten schmutzig! Die Schürzen waren immer blütenweiß. So plötzlich wie auf einemmal die Schürzen umgebunden wurden, so plötzlich war alles Österliche und Sonntägliche, alles Besondere und Schöne verschwunden und alles Gewohnte und Eintönige war wieder da, dass keine Hoffnung auf Überraschendes aufkommen ließ.
Als sich Frederike die Schürze von Tante Lilli skeptisch betrachtete, fiel ihr die rote Stickerei rechts oben auf, da wo die Brust am dicksten war.
„Was ist das?“,
fragte Frederike und deutete auf das Rote auf der Schürze.awo-herz 1960
„Das ist ein Awoherz“, antwortete Tante Lilli.
„Awoherz“ wiederholte Frederike, „was ist das?“
„Arbeiterwohlfahrt“, sagte Tante Lilli so selbstverständlich hingenuschelt, als wäre es eine Schuhcremesorte, die jeder kennen müsste. Dieses Wortungetüm beschäftigte Frederike. Was hatte das Endloswort „Arbeiterwohlfahrt“ mit dem Herz zu tun. Was bedeutete das rote Herz? Das fragte sie sich immer wieder aufs Neue, wenn sie auf die Schürzen guckte. Um mit dem langen Wort fertig zu werden, teilte sie es sich ein: unter ´Arbeiter´ konnte sich Frederike sofort etwas vorstellen. Bei diesem Wort sah sie ihre Mutter in der Küche stehen. Aber was war Wohlfahrt? Wohin ging die Fahrt, die Fahrt der Arbeiter? Mit ´Wohl´ und Herz kam sie nicht weiter. Sie musste ständig in der Gruppe sein, immer in der Masse. Das war so und sollte immer so bleiben. Das hatte nichts Wohles hier. Das aufgestickte Herz war auf der Schürze fast genau an der Stelle, wo es im Körper auch wirklich war. Das hatte ihr ein Kind beim Doktorspielen mal erklärt.

Der liebe Gott 

… fiel Frederike ein. Kann er sie doch sehen und lieb haben, ohne dass sie ihn sieht? Sie wünschte sich eine Leiter, die sie bis hinauf in den Himmel führte. Aber sie stellte sich solch eine Leiter vor. Sie  würde doch nur in die Luft führen. Wenn sie eine nächste Leiter nähme, um höher zu kommen, wäre da wieder nur Luft. So würde das Ende nie erreicht werden. Gott bliebe auch mit der längsten Leiter der Welt unsichtbar. Dann brauchte sie also keine Leiter. Entweder gab es ihn oder nicht.
Frederike verspürte, dass sie wieder hinunter in die Küche musste. Es ging ganz einfach. Es war ein erhabenes Gefühl, ganz allein die Treppen ins Untergeschoss hinunter zu gehen. War das ein riesiges Kellergeschoss mit seinen Hauptflur und Seitengängen. Sie drückte umständlich an der Klinke zur Küche herum, hing sich mehr daran, bis sich die Tür irgendwie öffnete. Wann kam es schon vor, dass Frederike selbstständig eine Türklinke zu betätigen hatte! Irgendwie ergab es sich bei der Kinderschar immer, dass die Türen offen standen. Außerdem passierte alles im geregelten Rahmen, in wenigen Räumen, zu denen die Erzieherinnen den Zugang öffneten und schlossen. Dieses Mal war die Mutter nicht in der Küche.
„Die ist im Kartoffelkeller“,
gab eine junge freundliche Kollegin Auskunft. Verängstigt und bang, die Begegnung, für die sie extra Erlaubnis hatte, könnte schief gehen, blickte Frederike diese Köchin sprachlos an.

„Komm, ich zeig dir, wo sie ist“,

… und schon nahm Frederike ihre Hand und ging durch den dunklen Flur, tief unten im Haus. Sie bogen ab und da stand sie. Der enge Raum war erfüllt von dem Getöse und Rumpeln einer wackelnden hässlich anzusehenden Maschine. Als das Rattern aufhörte, konnte Frederike endlich sprechen:
„Was ist das?“, fragte sie.
„Das ist die Kartoffelschälmaschine“, sagte die tiefe Stimme mit ernstem beschäftigtem Gesicht. Frederike freute sich, dass nun die Maschine aus war. Dann könnten sie beide gleich endlich zur bekannten Küche gehen.
„Bist du fertig?“,
fragte sie. Da traf sie ein höhnisches Grinsen:
„Ich bin noch lange nicht fertig. Ich muss hier arbeiten!“ sagte die Mutter finster.
„Ist gut, dann bleibe ich noch“, stellte sich Frederike schnell auf die neue Situation ein.
„Hier kannst du nichts tun“, erwiderte die Arbeiterin.
„Ich gucke zu“, sagte Frederike tapfer. Die von der Maschine irgendwie geschälten Kartoffeln wurden herausgenommen und in große Eimer abgefüllt. Die Maschine wurde neu beladen mit ungeschälten Kartoffeln, und der ohrenbetäubende, jede Stimme übertönende Lärm ging wieder los. Als genug Kartoffeln auf diese Weise geschält waren, trug die Mutter die Eimer, in jeder Hand einen, zur großen Küche.
„Na, willst du nicht langsam nach oben gehen?“,
wollte die Mutter wissen. Aber Frederike ging nicht darauf ein, setzte sich zu ihrer Mutter, die nun erklärte:
„Jetzt müssen die Augen ausgestochen werden.“ – „Ich auch“, sagte Frederike.
„Hier hast du ein Messer. Aber stich dich nicht. Diese Seite hier ist scharf. So musst du das Messer halten und guck, das hier sind die Augen. Die stichst du so aus“, wies die Mutter mit einem strengen skeptischen Blick die Kleine ein, ein Blick der sagte, das würde nie etwas werden. Nun hielt Frederike das erste Mal in ihrem Leben ein Messer in der Hand. Es hatte einen Griff aus Holz. Frederike packte es an und stach kräftig in die harte Kartoffel ein, drehte die Spitze des Messers und bohrte Auge für Auge aus. War eine Kartoffel fertig, landete diese in einem Eimer voll Wasser, nachdem sie einmal in der Mitte durchgeschnitten wurde. Frederike arbeitete und arbeitete. Sie versuchte an den Rhythmus ihrer Mutter heranzukommen. Sie hinkte zwar leicht hinterher, aber es stimmte Frederike zufrieden, das kräftige Atmen und zuweilen stöhnen der Mutter zu hören, wie sich der Brustkorb hob und senkte, wie sie sich ab und zu die Stirn mit dem rechten Handrücken, das Messer in der gleichen Hand haltend, abwischte. Diese Anstrengung der Arbeit teilte sie mit ihrer Mutter, die zu ihr gehörte. Bei der Arbeit durfte sie bei ihr sein. So liebte Frederike die Arbeit.
Auf einmal saß Frederike vor Erschöpfung zusammengesunken da und ließ die Arme an den Seiten hinunterbaumeln. Das Messer fiel aus ihrer kraftlos gewordenen Hand auf die Fliesen. Schnell hob sie es auf.

Rieke

„So, Rieke, nun kannst du nach oben gehen.“
„Ja. Ich komme morgen wieder“, sagte das Mädchen.
„Hier, trockne dir noch die Hände ab“, meinte die Mutter. Aber die überanstrengten Fingerchen, die leicht zitterten, schafften das nicht mehr. Frederike genoss es, wie ihre große Mutter ihr mit dem Geschirrhandtuch die Hand und die einzelnen Finger trockenrieb. Dann ging sie wieder in den Tagesraum, wo die Tanten damit beschäftigt waren, die Tische zum Abendbrot zu decken. Frederike sank auf ihr Stühlchen, machte einen runden Rücken und blickte ziellos durchs Fenster. ´Sie hatte mich Rieke genannt´, dachte sie, ´Rieke´ – das klang schön.

**
Das Haus hatte eine klare Ordnung.

… Unten im Keller wurde gearbeitet: Kochen, Nähen, Werkstatt, Heizungsanlage, Wäschetrockenraum. In der Mitte war der Tages-Aufenthalts- und Essbereich und oben der Schlafbereich. Alles getrennt. Doch die Trennung zwischen Arbeitsbereich der Mutter und ihrem Aufenthaltsbereich hatte Löcher bekommen. Die Ordnung der Trennung war noch immer stark, aber Frederike hatte diese Trennung durchbohrt. Abends im Bett war sie stolz darauf.

Am nächsten Tag verabschiedete sich Frederike kurz von der Tante mit den Worten:
„Ich gehe jetzt.“
„Wo willst du denn hin?“
„Nach unten.“
„Das geht doch nicht jeden Tag, Frederike!“, sagte die Tante kopfschüttelnd, um damit zu unterstreichen, wie töricht Frederikes Ansinnen war. So leicht war es also doch nicht, die betonharte Trennung zu durchsieben. Frederike musste nun dafür sorgen, dass eine angemessene Pause eintrat, damit die Mutterbesuche nicht so auffallen.

Verreisen

Die Tage verstrichen. Frederike wagte es noch nicht, wieder um Erlaubnis für den Küchengang zu bitten. Eines Tages kam Tante Elisabeth auf Frederike zu:
„Heute nach dem Mittagessen holt dich deine Mutti ab. Ihr verreist.“
Frederikes Herz hämmerte! ´Verreisen´- das kannte sie nicht. Wohin es wohl ginge? Die Zeit des Mittagessens wollte nicht vergehen. Als sie fertig angezogen bereitstand, kam auch schon die Mutter im hübschen Mantel, gut frisiert, lockeres weiches Gesicht:
„Wir fahren heute zu Oma.“ Frederike wiederholte: „zu Oma“ und fasste ihre Mutter bei der Hand. So gingen sie zur Bushaltestelle. Als der Bus mit seinem entsetzlichen Gestank hielt, musste sich Frederike überwinden, die Stufen hinein ins stinkende Innere zu nehmen. Sie suchte sich einen Platz aus, während die Mutter bezahlte und eine braune Papiertüte einsteckte.

Der Bus brummte los. Oma wohnte in der gleichen Stadt, in der das Krankenhaus mit dem Fahrstuhl war. Frederike betrachtete die Landschaft, die an ihr verschwommen vorbeihuschte. Bald gewöhnten sich ihre Augen an die Geschwindigkeit, und Frederike konnte die Felder und Bäume einzeln und klar kontouriert wahrnehmen. Dann gab sie sich den holpernden Bewegungen des Busses hin, ließ sich zusammensacken und lehnte  sich ganz fest gegen den Mantel der Mutter. Diese roch nach Parfum. Frederike schlummerte ein. Als sie aufwachte und durchs verschmutzte und zerkratzte Fenster des Busses schaute und wieder den Bus-Benzingeruch in ihrer Nase spürte, wurde ihr so schlecht, dass sie würgte und sich übergeben musste, gerade noch rechtzeitig in die Tüte. Nur einige Spritzer landeten auf der Rückenlehne vor ihr, die eilig von der Mutter weggewischt wurden. Nun fühlte sich Frederike wieder gut. Aber nicht lange, dann ging es wieder los. Die Mutter wurde unwirsch. Frederike war nun blass und schwach. Als der Bus am Marktplatz der Kleinstadt anhielt, erhob sie sich mühsam und umständlich. Ihre Beine waren ganz steif. Langsam drang Leben in ihren Körper ein, und sie konnte sich auf Oma freuen. Oma, so erklärte die Mutter, ist die Mutter von ihr. Das konnte sich Frederike nur schwer bis gar nicht vorstellen, dass ihre Mutter auch eine Mutter hatte. Jedenfalls nannte man diese Person Oma, und das klang vertrauensvoll. Sie waren die ersten, die bei Oma ankamen. Das Begrüßen fand im Vorbeihuschen statt. Der Tag des Oma-Besuchs hieß ganz besonders. Frederike konnte ihn nicht aussprechen. Sie brachte nur ein „Pinkten“ heraus. Aber so hieß es nicht richtig.
Es wurden noch mehr Leute erwartet. So nutzten die Mutter und die Oma die Zeit fürs Tischdecken und für das Kaffeemahlen. Letzteres war Omas Amt. Sie nahm ihre Kaffeemühle aus Holz, schob ein Blechtürchen zur Seite, füllte dunkelbraune Kaffeebohnen hinein und drehte den Hebel, dass es nur so ratterte. Dann war sie fertig.

„Und wo ist der Kaffee?“,          
fragte Frederike.
„Zieh mal an diesem Knopf“, forderte Oma sie auf. Frederike zog vorsichtig und ungläubig. Es war eine Schublädchen, das bis zum Rand mit dunkelbraunen Pulver gefüllt war. Es kam ihr wie Zauberei vor. Eben waren da oben in der Kaffeemühle noch die Bohnen, und nun war unten in der Schublade alles gemahlen, nur weil Oma den Hebel schnell im Kreis drehte.

Da klingelte es an der Tür, und nach und nach kamen sie alle an: drei Tanten, drei Onkel, vier Kusinen und ein Kusin. Und – da waren auch auf einmal ihre beiden großen Schwestern! UND FREDERIKE MITTEN DRIN!
Jetzt wurde noch die Schlagsahne geschlagen. So etwas sah Frederike auch zum ersten Mal. Sie kannte keine geschlagene Sahne und wusste auch nicht, wie man das machte. Eine weiße Flüssigkeit, etwas dicker als Milch, kam in eine Schüssel. Dann steckte eine Kusine das metallene Rührgerät hinein und kurbelte. Zwei kleine Schneebesen drehten sich, die Schlagsahne spritzte zu den Seiten und wurde ganz allmählich dicker. Das war dann geschlagene Schlagsahne. Die Gäste wurden in Kinder und Erwachsene eingeteilt. Die Erwachsenen setzten sich in das Wohnzimmer, die Kinder an einen Tisch in dem länglichen  Zimmer, das zum Schlafen und Essen eingerichtet war. Frederike besah sich ihre Kusinen und ihren Kusin genau, damit sie sie immer wieder erkennen würde. Ihre beiden Schwestern saßen bei den Erwachsenen.

Nach dem Essen ging´s durch die Küche in den Hof und Garten. Nun lernte Frederike zwei Spiele kennen. Das eine hieß Verstecken. Einer zählte lange und die anderen versteckten sich währenddessen. Gott sei Dank kam Frederike nie mit Zählen dran. Das konnte und kannte sie nicht. Außerderm fand sie das Verstecken viel spannender. Das zweite Spiel hieß Kriegen. Das gefiel ihr noch besser. Da musste sie schnell laufen, was sie gut konnte.
Als die Kinder verschwitzt wieder ins Haus gingen, waren die Torten verschwunden, die Teller abgeräumt und dichter Qualm von Zigaretten und Zigarren drang aus dem Wohnzimmer. Alle plauderten munter durcheinander, lachten plötzlich laut auf, redeten über das Rosenschneiden und über „die da oben“.

Als es schummerig wurde, war es Zeit für den Aufbruch. Im Heim angekommen, hatte Frederike wieder festen Grund unter ihren müden Füßen.

Frederike ließ sich einige Tage Zeit, dann verlangte sie wieder, nach unten gehen zu dürfen. Sie durfte.

22.4.2014

wird fortgesetzt

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4. Kap.

Weihnachtsmann
und Fahrstuhl

Der Weihnachtsmann

Der große Tag kam. Die Gruppe betrat den Tagesraum: Die Tische waren an andere Plätze gestellt, links neben der Tür. Rechts von der Tür, wenn man hinein kam, sollten sich die Kinder aufstellen. Erwartungsvoll wurden Lieder gesungen. Dann trat eine Stille ein, die Frederike noch nie erlebt hatte: Der Weihnachtsmann betrat den Raum. Vor Angst fingen einige Kinder an zu weinen, andere liefen fort. Frederike blieb zwar stehen, konnte aber den Weihnachtsmann unter diesen Umständen nicht bestaunen. Ihre Stimmung sank. Was für ein Fest! Die Kinder laufen vor Angst davon! Ihr Herzklopfen ließ nach. Von sich heraus spürte sie keine Angst, und so entschied sie sich für sich. Sie beobachtete in Ruhe. Die Angst der Anderen war nicht ihr Ding.

Sie wurde misstrauisch. Der Weihnachtsmann hatte einen langen roten Mantel, der Saum an den weiten Ärmeln war weiß abgesetzt. Auf dem Kopf trug er eine große rote Zipfelmütze mit weißem Trottel. Auf dem Rücken schleppte er einen braunen großen Sack. Unter der Unterlippe hatte er einen langen weißen Bart und unter der Nase einen weißen Schnurrbart. Der Weihnachtsmann nahm bedächtig Platz, zog den Sack zwischen die Beine, öffnete ihn und fing an zu sprechen. Seine Stimme kam unerwartet. Der Weihnachtsmann spricht! Wieder wurden einige Kinder verängstigt und weinten los. Die Stimme verwunderte Frederike. Sie war nicht richtig tief, nur tief gemacht. Konnte es eine Stimme von einer Frau sein? Nein. Sie kannte die Stimme nicht. Die Kinder hatten sich nun hintereinander aufzustellen. Jedes Kind erhielt aus der Hand des Weihnachtsmanns, der jedes Mal tief in den Sack griff, ein kleines Geschenk, das seinerseits ein kleines Säckchen war. Anschließend durften sie zu der Stelle gehen, an der Paketchen in verschiedenen Farben an der Wand hingen. Davon durfte Frederike sich eines aussuchen. Sie konnte sich nicht zwischen dunkelblau und türkis entscheiden und ging immer zwischen diesen beiden Paketchen hin und her, bis ihre Wahl für das türkisfarbene ausfiel, auf das sie deutete. Eine Tante schnitt es ab. Nun hatte Frederike beide Hände voll. Wo sollte sie jetzt damit hin? Alles war heute ganz anders gestellt. Sie setzte sich an einen Tisch, an dem noch ein Platz, der letzte überhaupt, frei war.

Alle Kinder hatten schon ausgepackt.
So guckten sie neugierig Frederike zu, als sie sich dem Schächtelchen widmete. Sie löste die Schnur, wickelte das Papier ab und hob den Deckel des kleinen Kartons: ein kleines grünes Auto, sozusagen ein Autöchen, aus Kunststoff mit weißen Rädern. Frederike verstand es, ihre Enttäuschung zu übergehen. Sie fand sich schnell damit ab, setzte sich auf den Boden und ließ ihr Auto rollen. So etwas hatte sie noch nie getan. Da fuhr das Auto, IHR Auto. Es rollte bis an einen Fuß eines Jungen. Frederike kroch vom Boden auf und bat den Jungen, ihr das Auto zu geben. Dieser blickte verachtend hinunter zu dem neuen Spielzeug und trat es mit voller Kraft entzwei.
„Mein schönes Auto“, sagte Frederike empört zu dem Jungen, der sich abwendete und so tat, als sei nichts geschehen. Was sollte sie nun tun? Zu den Tanten gehen, kam nicht in Frage, denn der Festtag sollte friedlich weitergehen. Sie wusste: Sobald sich die Tanten einmischten, gab es immer noch mehr Unfrieden, so als ob es ihnen gar nichts ausmachte. Frederikes Vertrauen zu ihnen war ohnehin geschmälert.
Sie hatte ja noch das Säckchen aus dem großen Sack, fiel es ihr ein. Was sie da herauszog war eine Mundharmonika, eine hellorangefarbene Mundharmonika. Aber wie funktionierte das Ding?
„Du musst da rein pusten!“, meinte der Junge, der eben noch ihr Auto zertreten hatte. Sie tat es. Das freute sie nun wirklich: Sie konnte Töne machen! Damit konnte sie etwas anfangen: freudig bließ sie wieder hinein. Sie selbst konnte damit Musik machen. Ganz einfach! Das war etwas! Ein Spielzeug nur für sie allein, das ganz unterschiedliche Töne von sich gab! Es kam darauf an, ob man an der einen oder anderen Seite hineinblies, und in der Mitte hörte sich die Musik wieder anders an. Frederike konnte musizieren! –

Aber „Weihnachtsmann“? Das schien ihr alles vorgespielt worden zu sein. Das behielt sie aber für sich. Schade, dass sie nicht wusste, wer diese Stimme hatte, dachte sie immer wieder.

Ein Festtag voller Spannung ging zu Ende. Sie nahm sich vor, sich nicht mehr zu fürchten.

****  ****

**********

Auf die kurzen Tage mit den langen dunklen Morgen und Abenden folgten allmählich die längeren hellen Tage. Frederikes Hautausschläge in den Armbeugen waren nun ganz verschwunden.
Wenn ihre Kindergruppe zur Abendrunde an ihren Tischen saß, hörte sie oft, wie von weit her, einen Gesang. Er kam aus dem Tagesraum der großen Mädchen. Das gab ihr Geborgenheit. Sie wusste, dass da ihre beiden Schwestern mitsangen. Sie waren ganz in ihrer Nähe. Sie war also nicht allein. Sie träumte davon, die beiden blonden Schopfe wiederzusehen, nur ganz kurz.

Wie es wohl in der anderen Gruppe war?
`Eine andere Tante nehmen`, fiel es Frederike wieder ein. Einige Tage später ging Frederike auf Tante Elisabeth zu und fragte sie so, als ob dem nichts im Wege stünde:

„Darf ich jetzt zu meinen Schwestern?“, fragte sie fordernd.
Tante Elisabeth sagte, dass es gleich ginge. Frederike wartete kurz, und dann gingen beide dorthin. Tante Elisabeth hatte ihr Wort gehalten. Kurz darauf stand Frederike zum ersten Mal in einem ganz anderen Tagesraum. War der riesig! Die Großen saßen an höheren Esstischen. Tante Elisabeth führte das Mädchen zu den Plätzen der Schwestern. Frederike erkannte sie überhaupt nicht wieder. Aber das machte ihr nichts aus. Die Gruppe begann gerade mit dem Abendessen. Sie reichten sich in der Runde alle die Hände und sagten dann etwas, was Frederike nicht verstand. Da für sie kein Stuhl vorhanden war, stand sie zwischen ihren beiden Schwestern, fasste sie nach links und rechts an die Hände und nuschelte auch den Spruch mit. Danach ging Frederike in der Begleitung von Tante Elisabeth brav zurück. – Sie ließ es nicht zu, dass ihr die Trennung schwer fiel. Es ging ja nicht anders.

Tante Elisabeth

… war eine gute Tante. Es war richtig, dass Frederike zu dieser Tante gewechselt hatte.
Sie empfand Stolz: Sie besaß zwei große Schwestern und eine große Mutter! Doch in dieser Nacht bereitete ihr der Gedanke an ihrer Mutter Unruhe. Da fiel ihr „Bauchweh“ ein und schlief ein. Am nächsten Morgen rannte Frederike zur Tante:
„Ich habe Bauchweh!“ rief sie ihr von Weitem entgegen. Dann erinnerte sich Frederike, dass man sich dabei beide Arme vorm Bauch hielt und leicht nach vorne krümmte. Das tat sie schnell. Den ganzen Tag hielt sich Frederike immer wieder den Bauch und sagte klagend und lang gezogen:
„Ba-uch-weh, Ba-uch-weh“.
Sie tat dies vorm Essen und danach, vorm Anziehen und danach, während des Spielens und danach. Frederike setzte es unauffällig aber deutlich ein. Nach drei Tagen wurde ihr eröffnet, sie müsse ins Krankenhaus, um dort untersucht zu werden, denn hier konnte man nichts feststellen.

Der Tag kam, an dem sie zum Krankenhaus vierundzwanzig Kilometer entfernt gefahren werden sollte.

Und wer kam mit?
Ihre große Mutter! Hübsch sah sie aus. Ganz anders als damals in der Küche. Sie warteten zusammen auf den Bus. Es war ein großer gelber Postbus, der anhielt und stank. Frederike wurde sofort so schlecht von dem Gestank, dass sie würgen musste. Ihre Beine wurden wacklig. Sie mochte gar nicht die Stufen hoch in den Bus einsteigen. Aber sie musste es bis zum Krankenhaus schaffen, sagte sie sich und stieg doch wacker ein. Sie nahm am Fenster Platz, ihre Mutter setzte sich neben sie. Frederike lehnte sich gegen die Buswand und schaute durchs Fenster. Der Bus fuhr ab. War das seltsam, wie sich die Landschaft bewegte! Es war eigentlich der Bus, der sich bewegte. Aber dennoch sah es so aus, als liefe die Landschaft mit ihren vielen Feldern am Fenster des Busses vorbei und konnte aber nicht so schnell sein wie der Bus. Das war zu viel für ihre Augen. Frederike begann zu würgen. Sie hielt ihre Lippen fest zusammen, damit der Mundinhalt schön drin blieb. Die Mutter eilte nach vorn zum Busfahrer und kam mit einer Speitüte postbusaus festem braunen Papier wieder. Frederike füllte sie bis oben hin. Danach ging es ihr besser. Sie guckte nicht mehr zur Seite raus, sondern geradeaus ins Businnere, wurde müde und legte ganz langsam, sich der Mutter schüchtern annähernd, den Kopf gegen ihren Oberarm. So wie das Motorengeräusch vom Bus tönte, so summte Frederike mit und presste dabei ihren Kopf sanft fester gegen den weichen, großen Oberarm, der ihrer Mutter gehörte.

Da war eine Person, die sie nicht kannte, die ihr jedoch nah sein musste, und Frederike hatte sie noch nie angesprochen.
´Was sagt man eigentlich?´ fragte sie sich. Von den anderen Kindern hatte sie einmal „Mutter, Mama, Mutti“ gehört. Frederikes Summen verstummte nun, weil sie überlegte. Sie entschied sich für Mama. Nun summte sie „Mamaaa, Mamaaa“ – so leise und zaghaft, als ob sie ein Geheimnis hütete. So etwas sprach sie das erste Mal aus. Sie übte es: Mamaaa, wiederholte Mamaaa und wurde von Mal zu Mal lauter und lauter dabei, dass sie von ihrer Mutter angestoßen wurde. Dann schlief sie ein.

Der Fahrstuhl

Nach einer langen dreiviertel Stunde waren sie in der Stadt angekommen. Im Krankenhaus dauerte es lange, bis ihre Mutter mit einem für Frederike fremden Namen aufgerufen wurde. Sie bekam einen Zettel, und dann mussten sie durch viele Gänge gehen. Mitten in einem Gang blieben sie stehen.
„Was machen wir jetzt?“ fragte Frederike.

„Wir warten auf den Fahrstuhl“,

sagte die Mutter mit tiefer unwirscher Stimme. Frederike wollte noch fragen, was das sei. Aber da öffnete sich die Wand. Da hinein sollte sie gehen: in eine Art Kammer. Frederikefahrstuhl begriff nicht, blieb verwundert stehen und die Tür schloss sich schnell wieder.
„Du musst sofort hineingehen“, ermahnte die Mutter. Als nach kurzer Zeit die schillernde Wand wieder aufging, schubste die Mutter Frederike leicht nach vorn. Da standen sie zusammen mit anderen Fremden in der Kammer.
„Was ist das?“, fragte Frederike.
„Das ist ein Fahrstuhl“, antwortete die Mutter ganz leise, als ob es die anderen nicht hören sollten.
`Und kein Stuhl drin`, dachte das Kind. Den Erwachsenen und ihren Wörtern konnte man wirklich nicht trauen.

Die Tür ging zu, der Boden bewegte sich unter ihren Füßen nach oben. Frederike gab dem Druck von unten nach oben nach und ging tief in die Knie. Unsicher machte sie sich wieder gerade. Mit wackeligen Beinen und mulmigem Magen rief sie erschrocken aus:
„Das bewegt sich! Meine Ohren!“
Aber niemand schien das Gleiche zu empfinden. Alle guckten stur ins Nichts, auch die Mutter. Da bekam Frederike wirklich Bauchweh. Als sich die silberne Tür endlich öffnete ging Frederike, sich den Bauch gekrümmt haltend, hinaus. Der Arzt stellte zwar nichts fest, aber Frederike hatte zum ersten Mal tatsächlich Bauchweh verspürt.

Als sie das Sprechzimmer verließen, machte sie sich auf den Fahrstuhl gefasst, damit sie sich nicht so erschreckte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und stieg ein. Nach einer Weile schloss sich die Tür. Aber nun passierte etwas ganz anderes als auf dem Hinweg. Der Boden bewegte sich von ihren Füßen weg nach unten, als ob sie in der Luft stehen müsste und für kurze Zeit schwebte.
„Was ist los!“ rief sie aus, „der Boden wackelt!“. Aber niemand antwortete.
Nach der langen Rückfahrt im Bus übergab die Mutter das Mädchen an eine Tante. Die gewohnte Umgebung ließ Frederike aufatmen. Nach all den Eindrücken schlief sie tief und fest ein.

Fortsetzung folgt

 

27.03.2014

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3. Kap.

Immer lauter

Frederike kannte ihr Alter nicht. Sie hatte keinen Begriff davon.  – Sie wurde verschlossen. Sie war von Tante Lilli enttäuscht. Ihr hatte sie sich anvertraut. Tante Lilli kannte sie gut, und nun versperrte sie ihr die Türen. Also fiel Tante Lilli für weiteres Erforschen aus, und Frederike müsste  jemand Neues nehmen. Sie wollte sich auf eine mögliche neue Tante vorbereiten und überlegte: Wenn sie nicht zu ihren Schwestern durfte, weil sie zur Gruppe der Kleinen gehörte, dann wäre es vielleicht möglich, dass die Großen zu den Kleinen kämen. Nun spürte Frederike wieder Kraft in sich.

Am Abend nach dem Abendbrot sollte sie gewaschen werden. Dieses Mal war ihr das bevorstehende Nacktsein unangenehm. Sie empfand große Scham, und wollte sich nicht ausziehen. Da wurden ihr die Kleider ruppig vom Leib heruntergerissen. Frederike weinte. All die fremden Erwachsenen konnten sie so bar und bloß sehen. Sie weigerte sich, sich in den halb hohen Spülstein zu stellen. Da wurde sie gepackt und stand gegen ihren Willen darin. Das Wasser kam. Es fühlte sich schrecklich an. Sie wollte es nicht an ihrem Körper haben. Sie weinte – immer heftiger.
„Was ist denn heute mit dir?“ fragte endlich eine Erzieherin in weißer Gummischürze.
„Meine Schwestern sehn!“ platzte es aus ihr schreiend heraus.
„Was?!“ Es hallte in dem Raum.
„Meine Schwestern sehn!“, rief Frederike etwas gedehnter
„Nein, das geht heute nicht“, war die Antwort. Nun begann Frederike verzweifelt immer lauter zu weinen. Es war mehr ein Schreien und Brüllen. Sie lief von oben bis unten rot, knallrot an. Frederike befürchtete, dass es  n i e  im Leben mehr ginge, wenn es „heute“ nicht ginge. Die Weißbeschürzte hielt das vor Erregung bebende Kind mit beiden Händen fest. Frederike stampfte mit dem rechten Fuß laut patschend auf:
„Jetzt sehen, jetzt, jetzt!“
In der Tür zum Waschraum kamen andere Erzieherinnen herbeigeeilt wegen des Lärms. Das feuerte Frederike wieder neu an, aus vollem Halse unaufhörlich so kräftig zu schreien, wie sie es vermochte. Vom Kopf bis zu den Füßen war sie immer noch rot angelaufen, ihre Halsadern dick angeschwollen. Die Erzieherinnen verschwanden bis auf die, die bei ihr stand, um sie zu halten. Frederike brüllte den abziehenden Tanten hinterher:
„Meine Schwestern, meine Schwestern!“

**

Nach einiger Zeit geschah es: in der Tür war der blonde Schopf eines großen Mädchens zu sehen. Sie lugte nur um die Tür hinein in den Waschraum. Der übrige Körper war wie verschämt verdeckt, denn sie hielt die Tür von der anderen Seite vor sich. Dieses Mädchen hatte fast die Größe eines Erwachsenen. Die beiden Kinder sahen sich an und sagten nichts.
„Das ist deine Schwester“, erklärte man Frederike. Sie betrachtete sie genau und kam zur Ruhe. Aber ihr Herz klopfte noch erbärmlich schnell und laut weiter.
Ganz langsam und leise, wie andächtig sagte sie: „MEINE Schwester“. Das hauchte sie fast unvernehmlich. Es war, als stünde da hinten an der Tür etwas unbegreiflich Schönes. Sie empfand auf einmal Peinlichkeit, dass sie beim ersten Anblick ihrer großen Schwester verweint war und nichts Hübsches angezogen hatte. Sie schwiegen sich beide mit großen Augen an. Frederikes Blick war verschwommen von ihren Tränen. Sie wischte sich die Sicht frei und fragte:
„Wer bist du?“
„Ich bin Lise“, war die Antwort der Großen. Darauf verschwand der Kopf, der schüchtern  um die Ecke gekuckt hatte. Einfach weg war sie! Ganz plötzlich! Frederike herrschte die Erzieherinnen an:

„Ich hab noch eine Schwester!“

… und stampfte mit dem Fuß im Spülstein auf, dass das Wasser spritzte.
„Die kannst du jetzt nicht sehen. Das ist zu spät!“ lautete die Antwort. Da brüllte es erneut aus Frederike heraus: ein Weinen, das lauter war als zuvor. Es dauerte nicht lange, da sah sie ihre zweite Schwester. Jetzt konnte sich Frederike schneller beruhigen, denn schließlich gingen ihr die Kräfte aus. Auch diese Schwester war hellblond. Ihr Gesicht war nicht so ernst und kühl wie das der anderen. Und diese lächelte leicht. Aber es war ein Lächeln der Verlegenheit, ein Lächeln des Nichtverstehens. Sie war auch schon richtig groß, fand Frederike, ähnlich groß wie die Erste. Diese Schwester konnte sie sich ganz ansehen, von den Füßen bis zum Kopf.
„Bist du meine zweite Schwester?“ fragte Frederike barsch mit zusammengezogenen Augenbrauen.
„Ja“, sagte die Blonde, und Frederike fragte weiter:
„Und wie heißt du?“
„Marie“, war die Antwort der Unbekannten. Alle Aufruhr und Verzweiflung legten sich bei Frederike. Dieses Gesicht, wie auch das vorherige, prägte sie sich fest ein, ebenso die beiden neuen Namen: Lise und Marie. Wer wusste schon, ob und wann sie sich wiedersehen würden. Schließlich war es eigentlich nicht erlaubt. Dieses eine Mal war es nur möglich gewesen – so wie die nur einmalige Begegnung mit ihrer Mutter. Die Schwestern so nah, die Mutter so nah! Aber es trennte sie etwas. Das waren die Heimgesetze.

****
****

Der Daumen

Frederike bekam mit, dass ein Kind ausgeschimpft wurde. Es ging um den Daumen eines Mädchens, dessen Namen sie nicht kannte. Es sollte diesen Daumen nicht

Und vor allem, Konrad, hör’!  Lutsche nicht am Daumen mehr;  
Denn der Schneider mit der Scher’  Kommt sonst ganz geschwind daher,
 Und die Daumen schneidet er –  Ab, als ob Papier es wär’. 
Fort geht nun die Mutter und  Wupp! den Daumen in den Mund.
aus „Struwwelpeter“

mehr lutschen. Mit herabfallenden Mundwinkeln und gesenktem Kopf stand das Mädchen betroffen da und schaute sehnsüchtig auf ihren Daumen.
„Guck mal, dein Daumen wird sonst ganz dick! Sieh, hier hast du schon eine Stelle! Ich klebe dir jetzt ein Pflaster darüber, damit du nicht mehr daran lutschst,“ hörte Frederike die Tante sagen. Sie beobachtete, das die Tante fortging zum Pflasterholen. Frederike ging auf das Mädchen zu und sagte:
„Zeig mir mal deinen schlimmen Daumen.“
Diese tat es stumm. In der Tat sah der Daumen des Kindes an dem ersten Gelenk anders aus als Frederikes: wund und leicht gerötet.
„Schmeckt dir der Daumen?“ Das wollte Frederike wirklich wissen.
„Ja, sehr. Wenn er wehtut, mache ich einfach eine Pause, und dann geht es wieder,“ war die Antwort des Mädchens. Die Tante schritt mit einem Pflaster bewaffnet heran und klebte es stramm um den zarten Daumen. Wortlos zog die Tante eilig davon.
„Tat dir der Daumen jetzt weh?“ wollte Frederike wissen.
„Nein, überhaupt nicht“, entgegnete die Andere. Frederike sagte noch, um Mut zu machen:
„Na, du hast ja noch einen Daumen.“
Das Mädchen schlief im Nachbarraum. Wenn sie sich trafen, freuten sich zwei Augenpaare. Bald durfte das Pflaster abkommen. Das Mädchen hatte wieder einen wirklich gut aussehenden Lutschdaumen. Manchmal zeigte das andere Kind Frederike seinen Daumen:
„Sieh mal, wie gut er aussieht!“ flüsterte die Andere, „obwohl ich ab und zu daran lutsche.“ –
„Prima“, befand Frederike, und beide gingen von einander angetan zu Bett.
Frederike fragte sich: Warum war es dem Mädchen so wichtig, einen Finger zu nehmen und in den Mund zu stecken? Sie wagte aber nicht, das Kind selbst danach zu fragen. Vielleicht konnte die Andere dann besser einschlafen oder ihre Ruhe finden. Vielleicht war das Kind aufgewühlt, wie sie manchmal, wenn sie sich am Hautausschlag kratzen musste.

Das Daumenlutschen blieb dennoch ein Rätsel für Frederike. Auf die Idee wäre sie nie gekommen. Frederike wollte es nun selbst ausprobieren, als sie noch wach zum Mittagsschlaf in ihrem Bett lag. Sie nahm sich vor, den Daumen in den Mund zu führen. Das kam ihr jedoch so fremd vor, dass der Daumen zunächst vor ihrem Mund anhielt. Frederike öffnete den Mund und schob ganz langsam ihren rechten Daumen hinein und umschloss ihn mit ihren Lippen. Das fühlte sich überhaupt nicht gut an. Das schmeckte ja gar nicht! Nun probierte sie ihre anderen Finger durch. Aber sie kam immer zum gleichen Schluss. Trotzdem hielt sie zu dem anderen Mädchen.

23.2.2014

 

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Kap. 2,75

ich bitte um Entschuldigung für „2,75“ – ich liebe diese Art Abschnitte.

Alter Trott,
alter Baum

am StrandFrederikes Fieber sank,

… ihr Hals wurde dünner, das Rauschen im Kopf verlor sich, der Schal wurde abgenommen. Sie spürte wieder die Luft um sich als frisch und angenehm. Ihr Gesicht bekam eine gesunde Farbe, ihre Augen, die während der Quarantäne schmal wie Schlitze waren, wurden wacher und größer. Sie wurde beweglicher, und eines Tages kam der Moment der Entlassung aus dem Abschirmungszimmer: freudig wurde Frederike von den Kindern wieder aufgenommen, die um sie fröhlich herumtanzten. So kam ihre eigene Lebendigkeit zurück. Sie hüpfte von einem Bein aufs andere quer durch den großen Tagesraum. Unter ihren Füßen knisterte und bog sich das Parkett. Sie war wieder da! Und das stärker als zuvor. Sie hatte eine Krankheit hinter sich gelassen, die sie nie wieder bekommen konnte.

**

Bei den Spaziergängen auf dem Deich nahm sie nun den Wind als lebensfrisches Wesen wahr, das ihr Gesicht sanft und liebevoll streifte. Sie streckte sich mit der Nase nach oben in die Luftzüge geradezu hinein, um die sanften Luftbewegungen so genau wie möglich zu erspüren.

Aber bald hatte sie eine Phase, in der ihr die Kinder auf die Nerven gingen. Ständig waren sie am Wehklagen. Mal hatten sie hier ein Wehwehchen, mal da. Meistens nannten sie es Bauchweh, was ihnen Schmerz bereitete. Sie hielten sich mit ihren beiden Händchen den Leib bauchwehund krümmten sich nach vorne. Irgendwie glaubte Frederike es den Kindern nicht. Es kam ihr gespielt vor. Immer wenn sich die diensthabende Tante um die jammernden Kinder kümmerte, schien der Schmerz wie weggeflogen. Das war für Frederike der Beweis, dass es Bauchweh gar nicht gab. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sich dieser Schmerz anfühlen sollte, weil sie an der Stelle noch nie etwas gespürt hatte. Ihr war auch unerklärlich, was für eine Bewandtnis es damit hatte, dass die Kinder ihren Schmerz nicht mehr vorgaben, wenn die Tante kam. Das Herbeieilen eines Erwachsenen konnte doch nicht Schmerzen vergehen lassen! Vielleicht machte ihnen das Herannahen einer Tante Angst, so dachte Frederike, und aus Scheu vor schlimmen Folgen sagten ihre Altersgenossen lieber, dass das Bauchweh jetzt aufgehört habe.
Irgendwie schien unter den Kindern eine Leibweh- und Klageseuche ausgebrochen zu sein. Diese Schmerzen trugen die Kinder leider nervtötenderweise nach außen. Sie heulten bei jeder Kleinigkeit los.

Nach einer Woche traten auch bei Frederike Beschwerden auf.
Das Schlucken tat ihr im Hals weh. Sie musste häufig spucken und wärmer als sonst war ihr auch. Sie musste vor der Tante den Mund weit öffnen und ihr die Zunge zeigen. Dann stand das Urteil fest: wieder ins Quarantänezimmer und viel liegen. Dieses Mal wurde die Krankheit Scharlach genannt. Die Ruhe von den jammernden Kindern tat ihr gut. Das Krankenzimmer kannte sie bereits. Das war nicht mehr schlimm. Es hatte etwas Vertrautes. Und Frederike wusste nun auch, dass die Krankheit wieder vorübergehen würde. Sie verspürte nichts Bedrohliches. Sie hielt ihre Hand auf ihre Stirn und sagte sich, dass sie leicht Fieber habe.

****

Kaum war die Quarantänezeit vorbei, da passierte etwas Merkwürdiges: Frederike bekam rote Tupfen am Körper, die immer mehr und dichter wurden. Die Tanten sagten ihr, sie habe auch ein rotes Gesicht. – Was machte das schon! Das bedeutete lediglich, weiterhin ausruhen, abwarten und langsam gesunden. Frederike genoss die Stille und das Für-Sich-Sein im leeren Krankenzimmer. Jede Nacht schlief sie durch. Als eine Woche und einige Tage vorüber waren, waren die Tanten nicht zufrieden mit ihr. Sie hatten nun die Arbeit, die verschuppte Haut an Frederike abzuwaschen. Das schien sehr anstrengend für die Erzieherinnen zu sein. Sie stöhnten dabei. Aber Frederike mochte diese Tätigkeit gern an ihr haben. Sie spürte ihren Körper von oben bis unten.

Nach weiteren zwei Tagen war alles vorbei. Sie kam am Abend in ihren gewohnten Schlafsaal. Der alte Trott kam auf. Ein Mädchen kackte wieder ins Bett. Herzlos kam die Tante herein und raunzte das schuldbewusste und schluchzende Kind an, wechselte das Laken und zog grußlos ab.

Nachtgespräch mit einem Baum

Frederike schlief in den darauffolgenden Nächten unruhig. Sie wurde mitten in der Nacht hellwach. Alles war still im Zimmer. Sie guckte zum Fenster hin. Da war wieder der Schatten, pechschwarz. Er war reglos, ohne drohende Hin- und Herbewegung. Beim längeren Hinsehen begann sie sich mit dem Schatten anzufreunden. Schließlich war er doch nicht gefährlich, fand sie, wenn er einfach nur so auf der Gardine war. Dahinter, das wusste sie, war ein großer Baum. Ein schöner Baum, der nun zu ihr ins Fenster hineinschaute. Auf einmal neigte er sich nach links, kam zur Mitte und neigte sich langsam nach rechts. Und von rechts aus ging das gleiche Spiel in die andere anni-baumRichtung und so weiter. Das sah fröhlich und freundlich aus. Als wollte der Baum sagen:
´Ich bin auch noch wach und bewege mich, damit du einschlafen kannst. Du bist nicht allein da. Ich schaue jeden Abend zu dir herein und wache über dich.´

In den nächsten Nächten freute sich Frederike auf den Schatten und sprach mit ihm leise, wenn die anderen schliefen:
„Hallo“, hauchte sie. Aber der Baum antwortete nicht. Sie versuchte es wieder:
„Hallo, lieber Baum, hörst du mich?“
Und dieser antwortete mit seiner herrlichen Baumkrone. Da er nicht nicken konnte, wog er seinen Kopf sanft hin und her. Das war ein Ja. Ja, er hörte sie. Nun war Frederike wieder an der Reihe. Sie flüsterte:
„ Hab´ ich Geschwister?“
Der Baum antwortete erneut mit einer leichten Bewegung, als lächelte er dabei zu ihr. – Sie schlief tief und fest ein.

**

Frederike wuchs. Das merkte sie daran, dass ihr ihre Lieblingshosen enger und noch kürzer wurden, als sie schon waren. Sie musste nun Abschied von den gewohnten Kleidungsstücken nehmen und sich an andere gewöhnen. Das ging nur, wenn sie sich klar machte, dass sie wuchs. Etwas Unheimliches hatte dieser Vorgang: wozu wuchs man, wodurch kam das? Sie wollte lieber bei der gewohnten Größe bleiben. Darauf war sie eingestellt. ´Was kommt da auf mich zu?´, dachte sie. – Mal sehen.

Sie geriet ins Grübeln, ohne es selbst zu merken. Aber ihre Arme sagten es. An ihre Hautausschläge in den Armbeugen hatte sich Frederike gewöhnt. Sie schienen abzuklingen, aber jetzt juckten sie wieder heftig. Sie beruhigte den Reiz mit einem leichten Kratzen.

Frederike hatte beobachtet, dass jeder Morgen, jeder Tag, jeder Abend genau gleich und genauso langweilig waren wie die vorherigen. Jeder Tag hatte immer den gleichen Ablauf!
Sie beobachtete außerdem, dass die Plätze an den Esstischen völlig leer waren, während alle Kinder tobten und spielten. Mitten am Tag, wenn es gar nichts zu essen gab, setzte sie sich ab diesen Zeitpunkt einfach auf einen Stuhl am Tisch direkt ans große Fenster. Von hier aus hatte sie die Möglichkeit, das fröhliche Lärmen der Kinder zu beobachten oder durch das Fenster das Wetter, die Bäume und Sträucher zu betrachten. Dabei geriet sie wieder ins Nachdenken. Sie erfasste einen guten Gedanken:

´Heute Abend spreche ich wieder mit dem Baum!´

Sie legte sich wie immer brav am Abend ins Bett, tat so, als wollte sie einschlafen, und sackte dabei nur kurz weg. Als alles still auf dem Flur und im Schlafraum war, guckte sie zur Gardine. Tatsächlich, er war wieder da und sah sie durch die Gardine an: ihr Baum. Der Blick der Baumkrone schien ihr aber verändert. Zaghaft flüsterte sie zu ihm:
„Wo sind meine Geschwister?“ –
Aber Was war nun geschehen! Der Baum schüttelte sich, als ob er im Zorn geraten war, und blickte finster durch die Gardine. Er schien sich regelrecht in Rage zu fegen. ´Das war wohl zu viel´, dachte Frederike. Das kann der Baum ja doch nicht alles wissen. Oder wollte er mit ihr schimpfen:
„Das darfst du nicht fragen! Kinder stellen keine Fragen!“ – ?
Oder war das ein heftiges NEIN! Keine Geschwister! -?
Schade. Sie dachte, sie hätte einen Verbündeten gefunden. Aber dieser wollte nicht mehr. Sie dachte an die schöne kurze Zeit mit dem Baum und kam zu dem Schluss: Es war nur der Wind. Der schüttelte die Zweige und Äste durcheinander und zerzauste sie.
`Der Wind kann gar nicht sprechen oder Zeichen geben!´, dachte das Mädchen.
Nun hatte sie keinen Vertrauten mehr. Aber ihre Gedanken waren richtig. Das Armkratzen wollte sie loswerden, und dann müsste sie jetzt auch den Nächsten großen Schritt wagen. Ihr war klar geworden, dass sie nicht allein auf der Welt war. Sie hatte also eine Mutter. Wie war es jetzt mit den Geschwistern?

Das war eine Frage für die gütige Tante Lilli.

Am nächsten Morgen war Frederike richtig putzmunter und hellwach. Laut mitsingend ging sie die weite Treppe vom Stockwerk der Schlafräume hinunter in den Essraum. Sie fand, dass sie wirklich gut gesungen hatte. Alle Wörter fielen ihr ein und die Melodie hatte sie auch richtig behalten. Das Frühstück stopfte sie sich gierig in den Mund. Als die Erzieherinnen abdeckten, kam Tante Lilli herein. Frederike eilte zu ihr:schürze-vorn
„Morgen, Tante Lilli!“
Tante Lilli war erstaunt über das zustürmende Mädchen. Frederike kam sich, als sie vor ihrer Lieblingstante stand, zum ersten Mal kräftig und groß vor. Wieder bemerkte sie, dass sie gewachsen war. Jetzt fiel ihr es mit Stolz auf. Sie brauchte ihren Kopf nicht mehr so weit in den Nacken zu halten wie noch kurz zuvor.
„Tante Lilli,“ begann sie laut und neugierig zu fragen,
„Tante Lilli, habe ich auch Geschwister?“
Tante Lillis Gesichtszüge wurden zurückhaltend, ihre Augen wanderten langsam nach links und rechts, dann wieder zu Frederike gewandt:
„Ja, meine kleine Frederike, du hast zwei Schwestern.“ –
„Wo sind die?“, fragte Frederike ungestüm. –
„Die sind auch hier, aber in der Gruppe bei den Großen. Da darfst du nie, nie hin. Das ist eine ganz andere Gruppe.“
Dann sah Frederike nur noch den breiten Rücken von Tante Lilli, und dass sie sich schürze-hintenaus ihrer weißen Schürze ein weißes Taschentuch herausholte und sich die Nase ausschnupfte; dann ging die Hand mit dem Taschentuch von der Nase dahin, wo in etwa die Augen waren.

wird fortgesetzt

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12.2.2014

Baukloetze

Kap. 1,25

4 – ein erstes Bad in der Ostsee

Frederike sah niemals einen Mann. Das sagte sie sich gerade, als alle Kinder im Tagesraum um sie herum spielten. Und so erinnerte sie sich, dass es aber einmal anders war. Da war sie noch im Gitterbett. Zuerst betrat damals eine Tante mit ihrer weißen Schürze den Raum. Dann trat ein Mann ein. Frederike richtete sich wie unwillkürlich am Gitter hoch und konnte nur erwartungsvoll staunen. Ihr Blick war fest an die Tür mit dem Mann geheftet. Der Mann wollte aber schon gleich wieder umkehren und die Tür schließen. Da rüttelte Frederike heftig an ihrem Gitterbett, stampfte auf und schrie: „Ich, ich!“, damit er zu ihr komme. Das war so heftig, dass dieser Mann zu ihr kam. Frederike betastete den Ärmel seines grauen Anzugs. So etwas kannte sie nicht. Da waren 4 graue Knöpfe dran. Die befühlte sie. Sie hatte es erreicht, dass ein fremder Mensch ihr Beachtung schenkte. – Das war der Heimleiter.

Doch, sie kannte noch einen Mann, das war Onkel Starmer, der Hausmeister. Der saß meistens im Heizungskeller neben seiner Werkbank, oder man traf ihn auf dem Hof, wenn er die quiekenden Schweine mit Essensresten aus der Großküche fütterte. Onkel Starmer war alt, wortkarg und immer lieb zu den Kindern. Und er hatte etwas Besonderes: zwei kleine dackelähnliche Mischlingshunde, Klara und Karla. Wenn sich die Kinderschar auf dem Hof für einen Spaziergang aufstellte, kamen die beiden leider zu oft herbeigerannt und bellten hektisch mit dem Schwanz wedelnd. Das flößte Frederike eine ungeheure Angst ein. Denn für sie waren Tiere merkwürdige Lebewesen. Außer den Schweinen und Hühnern auf dem Hof in ihren sicheren Ställen, war sie überhaupt nicht mit dem Umgang von Tieren gewöhnt, diesen vier- oder zweibeinigen Geschöpfen mit ihrer Unberechenbarkeit, was sie im nächsten Moment machen würden. Und dann das Bellen! Warum machen die das nur?! Das bloße Geräusch des Kläffens hatte etwas furchtbar Beängstigendes, das in ihr ein Panikgefühl auslöste. Sie klammerte sich dann an ein anderes Kind, versteckte sich hinter ihm und konnte sich erst wieder beruhigen, wenn die Köter nicht mehr zu sehen waren.
Viel angenehmer wirkten dagegen die Hühner auf sie. Ihr Gackern hatte etwas Ruhiges, Friedvolles. Aber dafür waren sie umso hässlicher in ihren ruckartigen Bewegungen anzusehen. Hühner und Schweine waren nützliche Tiere. Aber wozu brauchte Onkel Starmer diese kläffenden Viecher?! Trotzdem mochte sie ihn.

Das Essen – Das Kleid – Das Baden
5

Wie passt man sich an und bewahrt zugleich seine Eigenheit? Frederike brachte ihre Besonderheit heute über das Essen zum Ausdruck. Wo käme sie denn hin, wenn sie alles schlucken würde, was man ihr einverleiben wollte! Es gab ihre weiße Lieblingssuppe und ihre Lieblingstante Lilli hatte Dienst. Diese hatte beschlossen, alle Kinder schlagartig an diesem Tag gesund und kräftig zu machen. Jedes Kind bekam aus einer großen Tube einen Esslöffel voll weißer Paste, die sie Lebertran nannte. Als sie vor Frederike stand, versperrte ihr fest verschlossener Mund dem Löffel den Einlass. Kurzerhand wurde die übel riechende Masse unter ihr Lieblingsessen gerührt. Ihr schönes Essen vergiftet! Klar, dass sie nichts mehr aß. Die Erziehungsmethode ging nun so weiter: Sitzenbleiben, bis der Teller leergegessen war. Dann erst aufstehen. – Klar, dass es für Stunden nicht zum Aufstehen kam. Die Kinder versammelten sich zum Spazierengehen und gingen. Aber das war kein Anlass für Neid oder Beängstigung. Frederike blieb sitzen – mutterseelenallein in dem riesigen Aufenthaltsraum. Das machte ihr nichts aus. Denn entweder schmeckte die Suppe oder sie schmeckte nicht. Das ändert sich nicht durch Erpressung der Großen. Sie hatte nun in ihrer langen Weile Zeit, sich mit dem Fußboden zu beschäftigen. Der war aus Holz. Die einzelnen Stücke waren so angelegt, dass sie ein Fischgrätenmuster ergaben. Sie betrachtete Gräte für Gräte und irgendwann tauchte der Kinderschwarm wieder auf, und alles war wie gehabt.

Der nächste Tag musste der heißeste des Jahrhunderts gewesen sein. Sie bekam heute nicht die üblichen zu kurzen Hosen an, sondern zum ersten Mal ein Kleid, das – wie Frederike fand – ebenfalls viel zu kurz war. Nur diesmal mit der Peinlichkeit, dass man ihre Beine bis hinauf zu den Knien sehen konnte. Beim Sitzen war das Kleid noch viel kürzer. Sie zupfte ständig an dem Saum, um das Kleid länger wirken zu lassen. Hoffentlich ging dieser sogenannte heiße Tag bald zu Ende! Aber erst einmal ging es am Nachmittag zum Strand. Da das Heim direkt hinter dem Deich lag, war der Weg zum Strand nur kurz. Für diese Kinder gab es aber einen Extrastrand, weitab vom Trubel der Sommerfrischler mit ihren Burgen und Strandkörben. So ging die Schar der kleinen Leute mal wieder eine nicht enden wollende Strecke auf dem Deich, dann endlich hinunter zum Meer. Hier war der Sand nicht mehr feinkörnig, sondern gröber und vor allem steiniger. Frederike setzte sich.

 Der Sand und ein Unfall

… unter ihrem Po war eine merkwürdige Masse: Sand. Sie befühlte ihn, ließ ihn durch ihre Finger rieseln, betrachtete ihn genau. Im Grunde waren es viele kleine Steinchen. Alle Kinder tobten und plantschten inzwischen im Wasser. Nur eins nicht. So erhielt Frederike eine direkte Ansprache:
„Frederike, zieh dir Schuh und Strümpfe endlich aus!“ Sie tat es. An den Füßen war das Gefühl wieder anders.
„Frederike, zieh dich aus!“ Sie soll sich hier einfach ausziehen? Sie wagte es nicht. Sie wurde ausgezogen. Der Wind streifte ihre nackte Haut. Frederike war nackt, jeder konnte auf sie sehen. War das entsetzlich!
„Frederike, du darfst dir jetzt aus diesem Sack einen Badeanzug aussuchen.“ Was sollte das jetzt bloß: erst nackt, dann wieder anziehen?
„Mach schon!“
Nun gut, die anderen hatten auch diese Dinger an. Alle Badeanzüge hatten den gleichen Stoff, die gleiche Farbe, rot, und die gleiche Größe. Darunter wählte sie sich einen aus. Die Tante hielt das Ding auf. Mühsam kletterte sie hinein. Es war, als zwängte sie sich in eine Wurstpelle. Als die Träger über die Schulter gestreift waren, fühlte sie sich doch erleichtert. Endlich hatte sie wieder etwas an.
„Frederike, geh ins Wasser!“ Wie bitte! Erst sollte sie sich nackt ausziehen, dann die enge Wurstpelle anziehen und nun noch ins Wasser – das war zu viel! Sie verstand die Freude der Kinder nicht: sie plantschten herum, tauchten auf und unter. Wie kamen sie da hinten hin? Wieso war das Wasser vorne flach und hinten tief? Was passierte auf der Strecke dazwischen? Es war ihr unheimlich. Irgendetwas wurde ihr verschwiegen. Angst überkam sie. Die Tante drängte, sie sollte hineinkommen, sie würde sie fest halten. Aber Frederike bebte vor Angst. Was hatten sie mit ihr vor? Das soll Spaß bringen? Nein, so einen Unsinn wollte sie nicht mitmachen. Nach einer ganzen Weile hatte die Tante doch gesiegt: Frederikes großer Zeh war von einer Welle nass geworden. Das reichte dem Mädchen. Der Tante auch. Sie wandte sich der Gruppe zu, und Frederike kam langsam zur Ruhe.
Da stand sie nun. Ihr Blick wendete sich ab vom Wasser hin zum Strand. ´Dann gehe ich eben durch den Sand´, dachte sie sich. Dieses neue Gefühl an den Fußsohlen mochte sie. Bald kam sie auf einen langen Streifen Steine. Sie balancierte von Stein zu Stein und versuchte immer das Gleichgewicht zu halten. Als sie sich zur Gruppe umschaute, sah sie, dass die Kinder schon aus dem Wasser waren. Sie stolzierte nun hastig zurück, rutschte an einem scharfkantigen Stein ab. Das tat weh. Unterhalb ihres rechten Knöchels war aber nur ein weißer Strich in die Haut geritzt. Eilig ging´s weiter. Die Kinder trockneten sich ab.
„Na, was hast du so lange gemacht?“, fragte die Tante. –
„Ich war bei den Steinen“, war Frederikes stolze Antwort, denn sie hatte da einmal was ganz allein gemacht, ohne die anderen Kinder und ohne Aufsicht. Sie wurde dafür nicht zurechtgewiesen.

Weil Frederike noch in vielen Dingen unbeholfen war, streifte die Tante ihr die trockengebliebene Pelle vom Leib und rubbelte sie ab. Plötzlich rief die Tante aus:
„Was ist denn das! Du blutest da ja!“.
Tatsächlich, da quoll unter dem rechten Knöchel ein dicker Blutstrang heraus und floss in den Sand. Nun ging alles ganz schnell und stumm von statten. Die Tante stülpte Frederike irgendwie die Kleidung über, wickelte ihr Taschentuch um den verletzten Fuß und rannte mit ihr zum Deich Richtung Arzt. Die zweite Tante blieb bei der Gruppe. – Unglaublich: Da war eine Tante richtig um die Gesundheit der Kleinen in Sorge und ging nur für sie allein zum Arzt. Frederike hinkte mehr als dass sie lief und kam aus der Puste. Da packte die Tante sie und setzte sie auf ihre Schultern. Die Tante ging im Laufschritt über, dass Frederike da oben hüpfte. Sie selbst war nicht in Aufregung. Auf den Schultern fühlte sie sich geborgen und sicher. Ein neues Gefühl. Nun fiel es ihr wieder ein. Es war wieder die pummelige Tante Lilli, ihre Lieblingstante. Das Taschentuch war rot durchgefärbt, als sie beim Arzt ankamen.

6 Fortsetzung folgt

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17.1.2014

© annianders 2012-ff. – für alle kapitel – 16.10.2012

 

1. Kap.

H e i m s t a t t

1 – ein Mädchen erobert sich die Wörter

Der Raum

Was war das für ein Raum? Wie war sie hierhin gekommen? Das Bett mit den Gittern rechts und links ließ ihr keine andere Wahl, als nach oben zu schauen: diese Lampen kannte sie nicht. Sie leuchteten irgendwie unbekannt. Sie blickte zur Lampe direkt über ihr, fing an, mit den Augen zu blinzeln und entdeckte, dass der Schein der Lampe mal kürzer, mal länger wurde. Dieses Spiel brachte Spaß. Es ergaben sich immer neue Strahlenbilder. Am schönsten war es, wenn ihr es mit den Augen gelang, viele Strahlen um die Lichtquelle herum zu erzeugen. Dann sah die Lampe wie die Sonne aus. Aber immer wieder verstellte sich das Bild. Sie probierte von neuem, bis sie wieder diese Sonnenlampe hatte. – Wo war sie nur?
Ihr wurde langweilig. Da beschäftigte sie sich mit dem Bett, in dem sie lag. War es größer? War sie jetzt größer? Niemand war da. Sie sah sich um. Es standen noch andere Gitterbetten im Raum. Einige waren leer, in anderen schliefen die Kleinen. War denn wirklich niemand da? Schreien! – Es kam jemand, den sie nicht kannte. – Ein neuer Abschnitt in ihrem Leben würde nun beginnen, der anstrengendste.

2

Frederike war ein fröhliches Kind. Sie nahm ihre neue Umgebung begierig auf. Vor allem lauschte sie den Geschichten der anderen Kinder. Sie erzählten von einer ganz anderen Welt, vielleicht von der Welt. Ihre Welt bestand nur aus ihr selbst. In den Erzählungen der fremden Kinder hörte sie „Familie“. Was das wohl war? War das hier eine Familie? Wovon sprachen sie? Sie hörte „Geschwister“. Das waren nun doch zu viele Fragezeichen. Sie fragte einen Jungen, der erst seit wenigen Tagen da war:
„Was ist Geschwister?“ –
„Na, jeder hat doch Geschwister!“ –
„Und was ist das?“ –
„ Also, man hat einen Bruder oder eine Schwester.“ –
Frederike musste schnell überlegen und kam zu dem Schluss: „Das sind Jungen und Mädchen.“ –
Ein genervtes „Ja!“ hallte ihr entgegen. „Bruder ist Junge, die Mädchen sind Schwestern!“ belehrte er streng.
„Und du hast Schwestern“, behauptete Frederike. Da wurde der Junge wütend:
„Nein, ich hab´ vier Brüder und 2 Schwestern!“ – ´Aber warum heißt das Ge-Schwister? Hört sich nach vielen Schwestern an´, ging es Frederike durch den Kopf.
Diese Nacht konnte Frederike nicht einschlafen. „Geschwister“ ließ sie nicht los. Sie wühlte im Bett. Mal deckte sie sich bis zur Nasenspitze zu, mal legte sie die Beine auf die Decke, mal nur ein Bein unter die Decke und das andere darauf. Endlich schlief sie mit dem Bild der alltäglichen Schar von Kindern, die ihr noch unbekannt waren, ein.

Frederike versuchte sich wohl zu fühlen, und es gelang ihr auch, obwohl ihr klar war, dass sich die Umgebung verändert hatte. Gehörte sie hierhin?
Sie bemerkte, dass es einfacher war, die Kinder mit du anzusprechen, als sich all die Namen zu merken, und die anderen Kinder taten es ebenso. Sie sprach wenig und trotzdem mochten die Tanten sie.

3

Die Nächte – Die Tage – Der Besuch – die Tiere

Inzwischen war Frederike so groß, dass ihr Bett keine Gitter mehr hatte. Alles war geregelt, hatte einen festen Ablauf. Das Zu-Bett-Gehen rundete den Tag nicht ab. Es reihte sich einfach an den festen Tagesablauf an wie die vorherigen Abschnitte des Tages auch. Wie sollte Frederike da einschlafen können! Sie wiegte deswegen ihren Kopf hin und her, summte etwas dazu. Oft reichte das nicht. Sie bewegte dann ihren Kopf auf dem zerwühlten Kopfkissen heftiger und schneller hin und her, verstärkte das Summen und nach langer, langer Zeit vielen ihr dann die Augen zu. An diesem Abend wollten sich die Augenlider nicht senken. Ihr Bett stand gleich an der Tür. An der gegenüberliegenden Wand war ein Fenster. Ihr Blick ging dahin. Auf der Gardine sah sie den schwarzen Schatten einer riesigen Baumkrone. Drohend stand da etwas hinter der Gardine und guckte sie an. Sturm kam auf, sodass das Schwarze noch Furcht erregender auf sie wirkte. Es war, als spräche der Schatten zu ihr, mit dem Kopf kräftig schüttelnd: wehe – wehe – nein – nein, und das in dem Moment, in dem sie sich fragte, ob sie noch mehr Fragen stellen sollte. Wie viel wissen die Kinder? Woher haben sie das Wissen? Was ist mit den Antworten? Damit sie die Gefahr nicht mehr zu sehen brauchte, schloss sie die Augen. Aber wenn sie sie wieder öffnete, war das Bedrohliche auf der Gardine wieder da. Was würde stärker sein: ihre eigene Kraft, die ihr sagte, tue es oder die warnende Macht da draußen?

Ein erbärmliches Heulen weckte sie am nächsten Morgen. Ein Mädchen, das bestimmt ein Jahr älter war als sie, und oben im Etagenbett geschlafen hatte, hatte ins Bett Groß gemacht. Da lag mitten auf dem Bettlaken eine dicke fette Wurst. Darüber weinte jetzt das Mädchen. Frederike verstand das nicht. Wenn man kackt, dann drückt man doch, und das passiert dann doch nicht aus Versehen. Sie hatte es also mit Absicht gemacht. Warum weinte sie dann? Eine Tante kam wortlos herein, entfernte mit einer Handschaufel den Kloß, schüttelte mit dem Kopf und ging wortlos wieder hinaus. Das Mädchen heulte leise weiter. Es wollte wohl einfach weinen.

Frederike zog sich an. Man versammelte sich im Flur vor der Treppe. Als alle sich in ordentlichen Reihen aufgestellt hatten, stimmte die Tante, die ganz vorn war, ein Lied an. Alle sangen mit, auch Frederike. Dabei gingen sie die Treppe hinunter zum Tagesraum. Frederike kannte den Text jedoch nicht, und so sang sie ihn zeitverzögert hinterher. Das war ganz schön anstrengend. Sie ging daher in ein Mitsummen der Melodie über, achtete dabei gleichzeitig noch auf den Text, damit sie ihn beim nächsten Mal besser mitsingen könnte.  Aber da auch die Melodie unbekannt war, kam auch diese leicht verspätet hinterhergesungen. Machte sie das zu laut? Jedenfalls blieb die Tante stehen, sah ernst an den Kindern, die ordentlich aufgereiht auf den Stufen ebenfalls stehen blieben, hoch und fragte mit tiefer Stimme: „Wer brummt da?“ Keiner gab sich zu erkennen. So wurde weitergesungen, aber nur zwei Stufen lang. Die Tante sah sich wieder um. Jetzt blieb ihr Blick in der obersten Reihe stehen und verfinsterte sich:
„Frederike, du brummst. Hör auf zu singen!“
Also lernte Frederike, dass sie, wenn sie singt, immer brummt, und das durfte sie nicht. Welch ein hartes Urteil! Wie sollte sie da nur die Texte und Melodien kennen lernen, die die anderen anscheinend schon kannten! Woher bloß?

Unten im Tagesraum

… angekommen, setzte sich Frederike an einen der Tischchen. Ein Klappern begann. Die Teller und Tassen wurden aufgedeckt. Für sie war auch das Essen hier unbekannt. Sie traute sich nicht, den neuen Aufstrich zu probieren.
„Was ist das?“, fragte sie. –
„Marmelade“. –
„Dann mag ich keine Marmelade“, war ihre Antwort. Sie schob den Teller weg und guckte gelangweilt drein, bis alle aufgegessen hatten. Sie fiel damit nicht weiter auf, denn sie versuchte sich anzupassen. Gegen Ende des Essens wurde es entsetzlich laut im Saal. Die Kinder klapperten mit dem Geschirr herum, stritten sich, einzelne standen einfach schon auf.
Ihr Trost bei der Langeweile, die aufkam, wenn sie nicht essen mochte, war das riesige Fenster, das durch Holzsprossen in viele kleine unterteilt war. Da hindurch sah sie auf den hohen Deich, und dahinter musste das Meer sein. Sie war nicht gern draußen. Weil auch da alles neu, fremd, unbekannt war. Aber der Deich hatte etwas Schützendes.

Am Abend wollten die Augen wieder nicht zufallen. Sie bewegte den Kopf hin und her, um sich müde zu machen. Dann entschied sie sich für das Wachbleiben, weil es stärker war. Ihre Gedanken kreisten um die Fragen: Woher kennen die Kinder „Familie“ und „Geschwister“. Wenn sie Familie von draußen kennen, wie war es da? Warum sind sie hier her gekommen, ins – wie man es nannte – Heim? Diese Kinder hatten also Geschwister. Damit Frederike die Bedeutung dieses Wortes nicht vergaß, schärfte sie sich ein, dass Geschwister Bruder und Schwester bedeutete. Wenn die anderen Kinder also Brüder und Schwestern hatten, hatte sie dann auch welche? Wie sollte sie das in Erfahrung bringen? Wer könnte so etwas wissen?
Sie sah in die Dunkelheit hinaus. Da war wieder der Baum, der den Schatten auf die Gardine warf, und sich wiegte, wie ein drohender Zeigefinger: wehe – wehe – nein – nein. Aber es war ja doch nur ein Baum, machte sich Frederike diese Nacht klar.

Am nächsten Tag hatte die kleine pummelige Tante Dienst. Die war immer froh gelaunt und sprach Frederike manchmal direkt an, nur sie allein, nicht die ganze Gruppe. Nach dem Mittagessen fragte sie Frederike:
„Na, was hast du denn heute gegessen?“
Frederike war überglücklich, diese Frage gestellt zu bekommen, denn sie galt nur ihr allein und außerdem gab es ihr Lieblingsessen. Freudestrahlend antwortete sie:
„Juppe.“
Ihre Zunge konnte das „s“ noch nicht formen. –
„Und was für eine Suppe?“ –
„Eine weiße“ war ihre stolze Antwort. Immer wenn es Suppe gab, und diese Tante Dienst hatte, kam es ab nun zu diesem Frage- und Antwortspiel, an dem beide ihre Freude hatten.
Diese Tante wurde Frederikes Lieblingstante. Als wieder ein Tag des Fragespiels kam, fasste sie sich ein Herz:
„Tante, was ist Familie?“ –
„Familie, das sind Vater und Mutter und Kinder.“.-
„Habe ich Vater und Mutter und Geschwister?“
Frederike blickte die Tante mit weit aufgerissenen Augen an. Die Tante stockte und antwortete:
„Das weiß ich nicht“.

Nach dem Mittagsschlaf versammelte sich die Gruppe auf dem Hof, stellte sich in Reihen auf und machte einen Spaziergang auf dem Deich, immer geradeaus. Der Wind blies scharf von vorn. Die Drei- und Vierjährigen stemmten sich ihm gebeugt entgegen. Sie gingen stur dem Deich folgend immer geradeaus. Die Flinken unter ihnen hielten Schritt mit den beiden Tanten in vorderster Linie. Diese hatten noch die Kraft, sich trotz des heftigen Windes ununterbrochen zu unterhalten. Unterdessen zog sich hinter ihnen die Kinderschar immer mehr auseinander. Einige klagten, dass sie nicht mehr weiter wollten. Frederike hielt sich in der Mitte. Sie hörte von hinten Jammern und Plärren. Sie sah sich um, blieb an der Seite stehen, bis sie auf der Höhe der hintersten Reihen war. In der Tat, die Kinder waren entkräftet und lahm. Sie gingen nicht, sie schlurften, hatten lange Rotznasen, ihre Schuhbänder offen und verzweifelt fragende Augen: Was soll das? Wohin gehen wir? Was macht ihr mit uns? – Dann ging´s endlich zurück. Nun spürten sie den Wind von hinten. Aber sie waren inzwischen so kraftlos, dass sie das nicht mehr freuen konnte.

4

FORTSETZUNG folgt

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15.1.2014